Hans-Joachim Müller
Umgekehrt wird ein Schuh draus. Diskret und feministisch: Das Werk der Künstlerin Birgit Jürgenssen gehört zu den schönsten Entdeckungen des eben vergangenen Kunstjahrs
In: Welt am Sonntag, Nr. 1, 2. Januar 2011, Seite 50.

Lange waren die Arbeiten der vor sieben Jahren gestorbenen Wienerin ein gut gehütetes Geheimnis des Betriebs, jetzt sind sie in ihrer Heimat zu sehen.


Es ist von Mann und Frau noch immer nichts Gutes, geschweige den Besseres zu berichten. Sie haben Masken auf und sitzen sich gegenüber (z92), sie haben die Hände kreuzweise mit Schnüren verbunden und warten nur, dass der eine den anderen über den Tisch zieht. Beziehung heißt das Tischspiel, das seit der Erfindung des Tischs zu den beliebtesten Formen der Partnerunterhaltung gehört. Nun hat man mit 23 Jahren vielleicht doch noch nicht die Abgeklärtheit, die einen Abschließendes zu den Erfolgsaussichten kreuzweiser Verbundenheit sagen lässt. Aber eine Grundskepsis, was Zug- und Haltekraft angeht, ist dem Blatt der jungen Künstlerin Birgit Jürgenssen schon anzumerken.
Dabei hat sie gerade geheiratet, ihr Studium der grafischen Künste mit "sehr guten Erfolg" abgeschlossen und ist im Alter, in dem man die Dinge noch mit intakten Illusionen angeht. Andererseits beginnt ihr Karriereweg in Wien. Da herrschten Anfang der Siebziger noch Tischsitten von althabsburgischer Distinktion. Arnulf Rainer, der Malprofessor an der Akademie, dem Birgit Jürgenssen später als Assistentin zu Diensten war, vertrat die unangefochtene These, dass Frauen nicht malen könnten und von den männlichen Auszubildenden auch räumlich zu trennen wären. Und keine Gleichstellungsbeauftragte weit und breit, die dem alten Starrkopf eingeheizt hätte. Man musste die Regeln also gegen ihre Erfinder anwenden, wenn man den Beziehungskampf in die nächste Runde bringen wollte. Mag ja sein, dass einem die Hände kreuzweise gebunden sind, aber wenn man´s genau besieht, hat man zuletzt doch keine schlechteren Chancen als das lauernden gegenüber. "Ich hoffe, dass die Zeit für mich arbeiten würde", hat Birgit Jürgenssen im Rückblick gesagt, "und sich das Verhältnis für Kunst und Frauen ändern könnte." Aber die Zeit hält nie, was sie verspricht. Und als die Künstlerin im September 2003 54-jährig starb, gehörten ihre feinen Buntstiftzeichnungen zu den bestgehüteten Geheimnissen des Kunstbetriebs.
Vielleicht die schönste Entdeckung im zu Ende gegangenen Kunstjahr. Ein Werk, das so ungesehen und unverbraucht aussieht, als hätte es all die Jahre über in Grafikschubladen und Nachlass-Schachteln verbracht. Es hat zwar immer Freunde, Vertraute, Kenner gegeben, die beim Namen Birgit Jürgenssen leuchtende Augen bekommen haben und dringend empfahlen, die bescheidenen Kenntnisse über sie aufzubessern. Aber dafür war kaum Gelegenheit. Es ist die erste große Überblicksausstellung, die nun im Kunstforum der Bank Austria in Wien zu sehen ist, wo sie auch von vorzüglichen Publikationen begleitet wird. 
Gabriele Schor, die Leiterin der Wiener Firmensammlung "Verbund" arbeitet zusammen mit Abigail Solomon-Godeau seit Jahren an der wissenschaftlichen Erschließung und Veröffentlichung des wenig bekannten Werks. Wie sie die Vorstandsetage des österreichischen Stromanbieters dazu bewegen konnte, feministische und konzeptuell politische Kunst zu sammeln und dabei eine der bedeutendsten Birgit-Jürgenssen-Kollektionen zusammenzutragen, gehört zu den Wundern, die mitten in der Betriebsroutine doch dann und wann geschehen. So steht man vor diesem kammerformatigen Werk und gibt den Freunden, Vertrauten und Kennern gerne recht.
Überwältigungen sollte man keine erwarten. Man kann mit diesen Arbeiten schwerlich eine deklamatorische Ausstellung machen. Die Diskurse, in die einen die Zeichnungen, Fotografien, Collagen und kleinen Objekte verwickeln, sind von ganz und gar subtiler Art. Man muss nahe herantreten, geduldig und geneigt, sich über Vitrinen beugen, die versteckten Details zusammensuchen und sich seinen vorsichtigen Reim machen. Das Erlebnis ist außerordentlich. Zarter, berührender kann der sinnliche Mehrwert nicht sein, der sich aus dem Themenkreis um Körper, Geschlecht und Künstlerinnen-Rolle gewinnen lässt.
Es gibt in diesem Werk keine feministischen Schaustücke, die in die Bildgeschichte eingegangen wären. Wie die berühmten Wiener Aktionen der Valie Export zum Beispiel, die ihren vierbeinig krabbelnden Partner Peter Weibel in den 60er-Jahren Gassi führte, bis die Polizei kam und den Menschenhund von der Leine schnitt. Birgit Jürgenssen bewunderte das sehr, fand es "genial", wie die Kollegin sich eine Schachtel mit zwei Eingriffen vor die Brust hing und die Passanten aufforderte, das "Tapp- und Tastkino" zu benutzen. Sie selber hielt sich zurück, agierte in der Abgeschiedenheit des Ateliers, und wenn sie ihren Körper als künstlerisches Medium verwandte, dann war niemand dabei niemand stand hinter der Kamera. Die theatralische gebärde war der Künstlerin so fern wie die Inszenierung vor Publikum. Alle Aufnahmen in diesem ungemein stillen Werk sind mit dem Selbstauslöser gemacht. Und vielleicht war es ja eine Ausnahme, dass ihr einmal jemand "Jeder hat seine eigen Ansicht" (ph16) auf den Rücken hat schreiben dürfen oder schreiben sollen. Aber vielleicht war es auch so, dass erst einmal der Körper fotografiert und dann das entwickelte Bild beschrieben wurde.
Man sollte die Diskretion nicht mit Schüchternheit verwechseln. Sie ist ein Produktionsmittel, eine Weise ästhetischen Handelns, die das Aufklärungslicht nicht gleich verraten sieht, wenn sie hinter feinen Schleiern spielt. "Die Nacht zieht ab" (z405) heißt eine der verschwiegenen Zeichnungen von 1974. Eine blaue Handschuhhand, die einen blauen Stoffhimmel von der Schläferin so abhebt, dass Arm und Füße von der Taghelle angestrahlt werden, während Körper und Gesicht noch im Traumdunkel dämmern. Etwas Zwielicht herrscht immer. Und nie scheinen alle Rätsel gelöst, nur weil an der Botschaft kein Zweifel sein kann. Man sicht das bildnerische Pamphlet im Werk so vergeblich, wie man nirgendwo auf den Bühnengebrauch der zeichenhaften Dinge stößt, bei dem eine Künstlerin wie Louise Bourgeois ihre Obsessionen kultiviert hat. Birgit Jürgenssen hat sich für die fragilere Form des Apercus entschieden, für den surreal getönten Zwischenruf, den Einwand, dessen Gewicht im Bildwitz zergeht. Wunderbar zu beobachten, wie sich kostbare Bildaugenblicke lang die Vieldeutigkeit des Arguments verträgt.
Und wenn man nach dem Motiv forscht, wie es geschehen konnte, dass hier tatsächlich einmal die Ironie nicht bitter wurde, die Auflehnung nicht laut, die Entschiedenheit nicht spektakulär, dann steht man unversehens vor einer unscheinbaren Arbeit aus dem Jahr 1995, die wie ein Schlüssel zum verschlossenen Werk anmutet. Eine Schiefertafel, ein Kreidestift, zwei Worte, ein Punkt - "Ich bin." (s46) - und ein Schwamm, um die cartesianische Gewissheit schnell wieder auszulöschen. Leichthändiger ist der maskulinen Subjektphilosophie nie geantwortet worden. Nur eine Wischgeste trennt den Schriftstolz vom unbeschriebenen Blatt, auf dem sich das Selbstbewusstsein begegnet und wieder verliert. Man könnte auch so sagen: Vom Schwamm aus gesehen, ist alles in diesem Werk mehr aus Verletzung als aus Überzeugung geboren. Und bei aller Heiterkeit bleibt immer auch die Schmerzgrundierung spürbar, die schon zum Werkbeginn in den frühen 70er-Jahren auffallen muss. Wer mit weichen Farbstiften verschnürte, versteinerte, zerbrochene, flammende und wie Kartoffeln keimende Herzen malt (z746) , hat vielleicht doch nicht das Zeug zur künstlerischen Agitatorin.
Viel Hoffnung kann sie nicht gehabt haben, als Birgit Jürgenssen dem Du-Mont-Verlag eine Künstlerinnen-Anthologie vorgeschlagen hat. Damals, im Jahr 1974, schrieb sie einen richtig stolzen Ich-Satz mit Punkt: "Ich möchte einmal die Möglichkeit haben, mich nicht immer nur mit Kollegen vergleichen zu können." Und schon damals hat sie kaum etwas anderes erwartet, als dass der Verlag den Schwamm benutzen und seinen ablehnenden Bescheid mit der nächsten Post versenden wird.

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