Andrea Winklbauer
Der Ort der Wunde
In: Neue Zürcher Zeitung, 5.2.2011.

Die erste Retrospektive der feministischen Künstlerin Birgit Jürgenssen im Bank-Austria-Kunstforum in Wien.

Das Bank Austria Kunstforum in Wien feiert die Wiederentdeckung der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen, einer wichtigen Vertreterin einer "feministischen Avantgarde". Dabei stellt sich heraus, dass die vermeintlich Verschollene mit einigen ihrer Arbeiten gerade international recht präsent ist.

In Wien ist Birgit Jürgenssen seit langem bekannt. Jahrzehnte hindurch war ihr Werk in Ausstellungen zu sehen. Sie selbst unterrichtete über zwanzig Jahre Fotografie an der hiesigen Akademie der bildenden Künste. Nur, was selbst hierzulande bisher eher wenige richtig einzuschätzen wussten, war die Tragweite ihrer Position. Das ändert sich gerade: Seit kurzem wird Jürgenssens Oeuvre nämlich international stark rezipiert. Und siehe da: So manche ihrer Arbeiten ziert nun sogar das Cover eines wichtigen Katalogs wie jenes der 2008 in der Münchner Pinakothek der Moderne durchgeführten Ausstellung "Female Trouble". Die Kamera als Spiegel und Bühne weiblicher Inszenierungen", der die Polaroidfoto "Ohne Titel (Olga)"  (ph385) (1979) von Jürgenssens Katze mit weiblicher Maske zeigt. Auch für das Plakat der Ausstellung "Role Play. Feminist Art Revisted 1960-1980" der New Yorker Galerie Lelong von 2007 wurde eine Arbeit von Birgit Jürgenssen ausgewählt: die inszenierte Fotografie "Ohne Titel (Selbst mit Fellchen)" (ph679) von 1977, auf der die Künstlerin mit einem Fuchsfell über Augen, Stirn und Nase und zum Kussmund gespitzten Lippen ein Tiergesicht imitierte - eine kritische Verbildlichung der alten, misogynen Gleichung "Frau ist gleich Körper (im Gegensatz zu "Mann ist gleich Verstand") ist gleich Tier". Letzten Sommer erregte sogar ein Plagiat Aufsehen: Maurizio Cattelan hatte sich der von Jürgenssen inszenierten Fotografie "Nest" (ph761) betitelte Kopie (2010) mit sitzendem weiblichem Unterkörper in Strumpfhosen, in dessen Schoss ein Vogelnest mit zwei Eiern liegt, als eigene Bildfindung ausgegeben. mehr

(Wieder-)Entdeckungen

Die Ausstellung im Bank-Austria-Kunstforum in Wien, die erste grosse Retrospektive, macht diese zu ihren Lebzeiten - Jürgenssen, Jahrgang 1949, starb 2003 - überwiegend unterschätzte Künstlerin nun endlich auch im Inland als das bekannt, was sie ist: eine bedeutende Vertreterin der "feministischen Avantgarde". Diesen Neologismus schlug übrigens erst kürzlich die Kunstkritikerin und Kuratorin der Jürgenssen-Schau Gabriele Schor als Terminus zur Bezeichnung der feministischen Kunst der sechziger und siebziger Jahre vor. Im internationalen Kontext wird Birgit Jürgenssen bereits im selben Atemzug mit Künstlerinnen wie Cindy Sherman, Hannah Wilke, Carolee Schneemann oder Valie Export genannt, deren Arbeiten wie Jürgenssens feministische Themen wie sexuelle und häusliche Gewalt, Stereotype von Weiblichkeit, die Diktatur des Patriarchats usw. verhandeln. 
Mit etwa 250 Arbeiten gibt diese Schau erstmals einen repräsentativen Überblick über ein Oeuvre, dessen erstaunliche formale Vielseitigkeit und erfrischende Aktualität von unbändiger Phantasie ebenso zeugen wie von nachhaltigem Problembewusstsein. Bekannt sind davon verhältnismässig wenige Arbeiten: die "Hausfrauen-Küchenschürze" (ph1578) von 1975 etwa - längst eine Ikone der feministischen Kunst -, die in Form eines Küchenherds zum vorne Anlegen den (immer noch) Frauenleben bestimmenden Dienstleistungsverbund von Sexualität, Ernährung und Mutterschaft verdinglicht. Die Trägerin hat einen Laib Brot "in der Röhre": Birgit Jürgenssen liebte solche Wortspiele und war bei deren Verbildlichung enorm kreativ. Das belegen auch zahlreiche weitere, weniger bekannte Arbeiten, die in dieser Ausstellung erst zu entdecken sind, wie etwa eine Zeichnung (z365) um 1986, in der Buchstaben, im Kreis sowohl anagrammatisch als auch palindromisch angeordnet, die Worte "Lieb", "Beil", "Lied" und "Leid" bilden.

"Ich möchte hier raus"

Eine auffallende Konstante ist der Bezug auf den Surrealismus und besonders auf das Werk von Meret Oppenheim. Ein ganzer, im Kunstforum mit sichtlichem Vergnügen vorgestellter Werkblock zeigt deutlich die Geistesverwandtschaft zu dem von ihr bewunderten Vorbild: Jürgenssens absurd-komische Schuhobjekte (und -zeichnungen). Da gibt es das barock aussehende, fleischrosa Objekt "Schwangerer Schuh" (s7), dessen Spitze ein rosa Stofffötus ziert, den rotbraunen "Zungenleckschuh" (s16) - eine hochhackige Sandale mit präparierter Rinderzunge - oder die Femme-fatale-Paraphrase "Netter Raubvogelschuh" (s9), dessen raffinierte Semantik mit Hilfe einer Hühnerkralle als Absatz, schwarzen Hahnenfedern und einem Vogelkopf ein weiteres Mal die Frau und das Tier, aber auch Eros und Ekel sowie Weiblichkeitsklischees und die Kritik daran zusammenbringt.
Es ist immer wieder einen zweiten Blick wert, wie Jürgenssen auch in ihren Zeichnungen aus den 1970ern ebenso wie in den inszenierten Fotografien Frauenbilder dingfest macht, sie ins Groteske übersteigert und dekonstruiert. Es wird deutlich, dass der Ort der Verhandlung der Zuschreibungen von Weiblichkeit der Körper der Künstlerin selbst ist. Er ist der Ort der Wunde, "an dem sich gesellschaftliche Normen, Dispositive und Machtmechanismen in den Leib einschreiben" (Gabriele Schor). Birgit Jürgenssen hat mit ihrem Werk beständig in dieser Wunde gestochert und die "Einkerkerung, Züchtigung und Disziplinierung" von Frauen sichtbar gemacht. Die Bilder, die sie dazu geschaffen hat, sind ebenso unabdingbar wie komplex. Nur manchmal drückte sie sich auch so direkt aus wie in einer Fotografie von 1976, in der sie sich im braven Hausfrauen-Look gegen eine Glasscheibe presst, auf der schlicht steht: "Ich möchte hier raus!" (ph17).

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