Peter Baum
'Sklavin des Herzens'. Zu den 1983 entstandenen Arbeiten von Birgit Jürgenssen
In: Ausst.-Kat. Künstlerinnen. Österreich - 20. Jahrhundert (Linz: Neue Galerie der Stadt Linz, 1983), S. 69-81.

Es ist ein poetischer Titel, den Birgit Jürgenssen für ihren jüngst entstandenen, an dieser Stelle eingangs erwähnten Zyklus von Aquarellen (z490) ,  (z495) gewählt und als Motto einem sehr persönlichen bildnerischen Bemühen vorangestellt hat, das im Spannungsfeld von sensibler Expression und verschlüsselter Botschaft eine große Bandbreite von Empfindungen, Denkanstößen und originären Möglichkeiten künstlerischer Umsetzung widerspiegelt. Die dreiundzwanzig, neben einem großen Öl auf Papier, für die Linzer Ausstellung 'Künstlerinnen' ausgewählten Aquarelle, entstanden in rascher Abfolge und konzentrierter Reflexion. Sie gehen in manchen Aspekten auf frühere Erfahrungen und Werkperioden zurück, markieren jedoch in der Summe ihrer Ergebnisse einen in bestem Sinne neuen, eigenständigen und qualitätsvollen Abschnitt im Oeuvre der selbstkritischen, bewusst in ihrer Zeit stehenden Künstlerin.
Die neuen Aquarelle von Birgit Jürgenssen sind einfallsreiche, oft kühne bildnerische Parabeln für die stets virulente Problematik menschlichen Seins; - vorgeführt und gleichsam modellhaft skizziert an den Verstrickungen der menschlichen Figur, die - in der Absicht , sie zu überwinden - ebenso für den kollektiven wie individuellen Anspruch erfüllter Daseinsbewältigung stehen.
Dem Verhältnis von Mann und Frau (hochtrabend und barock noch immer als 'Kampf der Geschlechter' apostrophiert), das schon in den Arbeiten der beginnenden siebziger Jahre bevorzugtes Thema und Ansatz einer zugleich doppelbödigen wie selbstironischen Auseinandersetzung war, gilt auch in den neuen Blättern zentrale Aufmerksamkeit.
Die ambivalente Bildsprache konfrontiert unter überlegter Nutzung farbiger Reduktion mit verblüffenden, in der Regel offen und großzügig gehandhabten kompositionellen Möglichkeiten. Birgit Jürgenssen beherrscht stupend die - gelegentlich durch Deckweiß gehöhte - Technik des Nass - in - Nass Aquarellierens. Zeichnung und Malduktus sind fließend. Ein meist grauer, gleich, gleichfalls mit dem Pinsel gezogener Konturstrich markiert Figuren und Figurenpaare, deren Körperhaftigkeit mitunter aufgehoben und ins Mystische verwandelt zu sein scheint.
Zahlreiche Darstellungen sprengen in ihrer Tendenz das gewählte Format. Die Momente von Wandlung und Verwandlung beherrschen ebenso die Szene wie Andeutungen in Richtung Gefahr und Unterdrückung, die Notwendigkeit, sich zu behaupten, Gefühle in vertretbare Ordnungen zu übertragen und der ständige Widerstreit von Emotion und Intellekt. Die Direktheit des Ausdrucks wird von einer liebenden Aggression getragen. Birgit Jürgenssen will mit ihren Arbeiten (den Bildern ihrer 'inneren Umgebung') mehrmals Denkanstösse vermitteln! Sie legt deutlich spürbar ein Bekenntnis für den Empfindungsspielraum des Menschen ab, für Poesie und Intuition, für das Unabwägbare und das Wissen um die Ohnmacht der Ratio, wenn ihre Leidenschaft und Lebensfreude, Tragik und Tod entgegenstehen. Stärker als je zuvor erreicht die Künstlerin mit ihren neuen herben Aquarellen auch eine philosophische Dimension, die zum Dialog herausfordert.

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