Rainer Metzger
Nachruf. Birgit Jürgenssen (1949-2003)
In: Camera Austria International Heft Nr. 84/2003, S.120.

Das Foto ist so berühmt wie einschlägig. Entstanden 1968, zeigt es eine illustre Herrenrunde von Mitgliedern des Wiener Kunstbetriebs samt einer, einer einzigen Frau. Das Foto ist beschriftet, und während die Männer allesamt unter ihrem Nach- und damit professionellen Namen (Pichler, Steiger, Kalb etc.) firmieren, heißt es bei der Frau schlicht „Ingrid". Mit diesem Foto, so gab Birgit Jürgenssen in einem Gespräch, das wir im Dezember 2001 führen, zu Protokoll, sei sie „gewissermaßen aufgewachsen". Aufgewachsen ist sie auch mit dem Geist, der aus ihm spricht. 
1968 begann Birgit Jürgenssen an der Wiener Hochschule für angewandte Kunst zu studieren und geriet in jene ästhetischen Zirkel, wo sie ihrerseits eine Rolle wie „Ingrid" (die übrigens Ingrid Wiener war) spielte. Frauen können nicht malen, machte als Faktum die Runde. 1982 wurde sie an der Akademie die Assistentin Arnulf Rainers, ein Jahr bevor der Meister seine spezielle Apartheid-Politik beschloss und den Versuch startete, die Klasse nach Geschlechtern zu trennen. 
Derlei Vorstellungen, in denen die Klischees von Authentizität und Schöpfertum und deren als selbstverständlich angenommene Maskulinität die fröhlichsten Urstände feierten, waren die vielleicht wichtigsten Motivation in Birgit Jürgenssens Schaffen. Es war die Penetranz dieser Klischees, und es war ihr ureigenes Naturell des Ausgleichenden und Ausgeglichenen, die dann eine bemerkenswerte Kunst entstehen ließen. 
Anders als es seinerzeit frauenkämpferische Praxis gewesen wäre, reagierte Birgit Jürgenssen nicht mit einem Ton der Empörung, sondern probierte einen Postfeminismus avant la lettre. Sie nahm die maskulinen Auslassungen so buchstäblich, wie Bilder es nur können. In ihren „Hausfrauenzeichnungen" (z402) wird mit Kopftuch, Putzeimer und Lappen der Boden geschrubbt, und in der Selbst-Inszenierung der „Hausfrauen-Küchenschürze" (ph1578) zeigt sie sich als Heimchen am - wie eine Schürze umgehängten - Herd. Von vornherein war ein solches Agieren subversiv und nicht rebellisch und stand damit für eine Strategie, die Rosemarie Trockel ein Jahrzehnt später die höchsten Lobpreisungen einbringen sollte. 
Der Katalog der oberösterreichischen Landesgalerie, in dem Birgit Jürgenssen 1998 die Arbeit der letzten drei Dekaden Revue passieren ließ, sieht entsprechend aus wie ein Bildwörterbuch zur Gender-Debatte. Was die Künstlerin einst in einem Brief an den Du-Mont-Verlag einforderte, ein Lexikon zur Gegenwartskunst von Frauen, scheint in ihrem Oeuvre in einer Art Personalunion verkörpert: in Gestalt der Schuhobjekte der Siebziger, der Latex-Arbeiten aus der Zeit um 1980, der Inskription auf dem eigenen, nackten Körper oder der fotografischen Tableaux Vivants mit ihren notwendig weiblichen Nachstellungen buchstäblich klassischer, weil antiker Rollen, zum Beispiel als „Gladiatorin" (ph24) oder als „Hirtin" (ph159) , ebenfalls aus der Zeit um 1980. 
Mit seinen multiplen Gesten der Willfährigkeit und der lustvollen Unterwanderung war Birgit Jürgenssens Œuvre prädestiniert für die „Phantom der Lust"-Schau in der Grazer Neuen Galerie, die ihr im Frühjahr/Sommer 2003 einen großen Auftritt bescherte. Die dort beschworene „hierarchielose, demokratische, transversale Vielfalt von Organen und Objekten": in Arbeiten wie „Möchte ein Hündchen sein und trotzdem dich verspeisen" (z398) oder „Reifrock (bin ich jetzt erwachsen?)" (z427) gab es diese Vielfalt mit einem Lächeln. 
Ende der Achtziger fügte sich Birgit Jürgenssen zusammen mit Ona B., Evelyne Egerer und Ingeborg Strobl zur ersten bildnerischen Girl Group, bekannt geworden als „Die Damen" (später wirkte statt Evelyn Egerer Lawrence Weiner im Quartett). Auch hier ging dem Gründungsakt eine sehr einschlägige Erfahrung voraus, die vollständige Abwesenheit von Frauen bei einer Podiumsdiskussion über Sponsoring. Der initiale Auftritt der „Damen" bestand in der Nachinszenierung des eingangs erwähnten Fotos: in der Nachinszenierung und in der Nachnominierung, denn die entschiedene Geste besteht darin, den Frauen nunmehr ihren Nachnamen - und womöglich noch dazu den eigenen, nicht angeheirateten - zu gestatten. 
Wahrscheinlich ist es das Investigative, Selbst-Distanzierte, Experimentelle und damit immer schon Vorläufige, das es bisher verhindert hat, Birgit Jürgenssen ganz oben im Künstlerinnen-Ranking zu verorten. Ihre Selbst-Darstellung vollzog sich, und auch hier arbeitete ihr Naturell mit, leise. Die Wichtigkeit ihres Werkes muss jetzt, da sie nach langer Krankheit am 25.September 2003 verstorben ist, erst noch erkannt werden.

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