Margit Zuckriegl
Zu den fotografischen Projektionen
In: Ausst.-Kat. Birgit Jürgenssen. Früher oder Später (Linz: Oberösterreichisches Landesmuseum, 1998), S. 69-72.

Il cassetto dei sogni...
Die Lade, in der die Träume warten, darauf: herauszudürfen, herumzuspuken, hervorzulugen, bevor die Schublade wieder geschlossen wird; Jedoch - beim Nachsehen - die Lade der Träume, "Il cassetto dei sogni è vuoto" wispert ein Unbekannter ihm zu und wendet sich sofort von ihm ab, verschwindet im Dunkel des Innenraumes, obwohl er sich von seinem Sitzplatz am Nebentisch nicht bewegt hat. Da meint er, im Abwenden noch so was wie ein Glasauge oder eine Verletzung an dem Unbekannten festgestellt zu haben, etwas Seltsames, Unheimliches. Er blickt schnell zu ihr hinüber, die kaum etwas bemerkt zu haben schien "Was meint der - il cassetto dei sogni è vuoto" wiederholt er ihr, die mühselig die genannten Vokabeln aneinanderreiht: er als Römer versucht ihr, der Fremden, eine Übersetzung anzubieten, da winkt sie ab, neigt den Kopf und sagt, dass es ihr gegolten hat. Sie sitzen an einem der kleinen Tischchen in den zahlreichen Café-Restaurants beim Pantheon, halb auf der Piazza, halb drinnen, ein seltsames Rendezvous - sie sind einander fast gänzlich fremd, nur einmal vorher, an einem weit entfernten Ort zu einer völlig anderen Zeit, hatten sie sich getroffen, und nun, unter all den Fremden, werden sie von einem Fremden erkannt. Eine phantastische Situation voll Poesie und Dramatik - eine Filmsequenz - Schnitt - eine Traumepisode, die man irritiert abschüttelt beim Aufwachen.
Die Idee der Traum-Schublade bleibt.
Sie steht für das Repertorium von Künstlern, die - wie Birgit Jürgenssen - aus dem Fundus eigener persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse schaffen. Auch der Bericht von einem Besuch in Cindy Sherman's Atelier liest sich wie der Report von einem verwunschenen Traum-Platz: all ihre Requisiten waren in Schränken verstaut: ihre Schubladen und Kästen quellen über von abstrusen Versatzstücken geliehener Identitäten; es stellt sich der Eindruck ein, dass hinter all den Türen und Fächern dauernd etwas west und lauert. Hier sind die Traum-Laden zum Platzen voll, zum Bersten angestopft. mehr

Das Ich als Projektion
Cindy Sherman dringt in von ihr ausgewählte Figuren der Kunst- oder Filmgeschichte ein, sie erschafft sie durch diesen Akt der Penetration und Durchdringung zu momentanem, auffackelnden Leben. Ihr Weg über die Flohmärkte der Stadt durch die Museen der Welt hin zu den irrlichternden Ikonen des raum- und zeitlosen kulturellen Menschheitserbes blitzt in den Sekunden des irritierenden Wiedererkennens auf und verfällt im Moment einer kognitiven Rezeption. Ihr (kunstwollendes) Ich projiziert sich auf bzw. in ein anderes Individuum durch den Akt des Auswählens, den langwierigen Prozeß der Aneignung und das filmkadergleiche Verglühen. Anders, wenn das Ich die Projektion selbst ist. Wem gilt das Wort von der Traum-Lade? Es geht durch den männlichen Protagonisten hindurch und trifft "Sie", die sich in dieser Trans-Aktion nicht nur wiedererkennt, sondern gleichsam vermutet, dass sie ihre "Traum-Unmöglichkeit" auf "Ihn" projiziert hat, den Unbekannten als Medium benutzend. Das Bild des Ich wird auf den anderen geworfen, geschleudert, nicht einfach überlagert: Die Translatio weicht einer Transiektio.
Birgit Jürgenssens Körperprojektionen sind in ihrem Ergebnis dieser Alliteration im textlich-literarischen Bereich viel eher verwandt, als den un-zeitlichen Metaphern Cindy Shermans. Ihr eigener Körper, aufgelöst in Licht, Schatten, Silhouette, Kontur, Transparenz, Fläche - in einer schemenhaften Simplifizierung - überlagert sich mit Bildern anderer Identitäten. Es handelt sich dabei um eine multiple Transformation, die im Akt der Überlagerung ein neues, eigenes, mehrschichtiges Ganzes schafft. Es herrscht kein unzeitliches Kontinuum, in dem ein Individuum eine Art Verpuppung im langen Weg durch die Generierungsstadien durchmacht, um das Ziel des Anders-Seins zu erreichen, sondern es herrscht ein momentaner Augenblick des Zusammenpralls, verfestigt in einem permanenten Bild. Birgit Jürgenssen schafft nicht demiurgenhaft neue Wesen, neue Realitäten; sie arbeitet mit Projektionen von Wirklichkeit (ihrer eigenen Körperlichkeit, Reproduktionen von Kunstwerken, Abbildungen dreidimensionaler Objekte) um Realitätsreste übrigzulassen, die sich in bildmäßigen Konstruktionen manifestieren.

Die Projektionen des Ich
Der "verschleierte Blick" ist ein Topos, der sich durch das Oeuvre von Birgit Jürgenssen symptomatisch durchzieht, wie auch ihr Wille zu Disziplin, Körperbeherrschung und Exerzitien, den sie sich durch ihre jahrelange Ballettausbildung - und -übung angeeignet hat. Die mit typisch weiblichen Attributen versehene Tänzerinnenkarriere war ornamentiert mit den Jungmädchenidyllen von Spitzenschuhen, Tüllröckchen, Haarschleifen und Theaterschminke. Traumsequenzartig tauchen diese Versatzstücke in ihrem künstlerischen Repertoire auf, nehmen vom Objektcharakter ausgehend geradezu eigendeterminierte Qualitäten an; die Projektion ihres eigenen Ich versetzt die Künstlerin in die Lage, Körper zu Objekten und Objekte zu Bildern ("images") werden zu lassen: ihre Schuh-Objekte, Wirbelsäulenobjekte, fotogrammierten Körperpartien und lichtkopierten Solargraphiken sprechen die Sprache der künstlerischen Projektion, verkünden dabei den intimen Tonfall des subcutan mitschwingenden Ich. Entfesselung und Verwandlung des Ich werden durch den "verschleierten Blick" abgefangen, gemildert und vor decouvrierender Indiskretion geschützt - das Ich liegt nicht offen und bloß; pulsierend lässt es sich spüren.

Das Sein zwischen Erinnern und Vergessen
Eine rationale Kunstwissenschaft verleiht sich selbst die Attribute einer aufbauenden, kumulierenden und auf Erkenntnis beruhenden Vorgangsweise. Diese fußt ganz entschieden auf dem Faktum des Erinnerns, denn ansonsten wären Vergleiche, Deduktionen, wäre die gesamte Komparatistik nicht zu bewerkstelligen.
Eine dekonstruktivistische Theorie geht wiederum von der Zertrümmerung und Dekompilierung von Lehrgebäuden aus, eine Tatsache, der man die Tätigkeit des Vergessens zuordnen würde.
Kein Individuum kann sich von vorneherein aussuchen, an was es sich erinnert, was es andererseits lieber vergessen will. Die Psychologie kennt geradezu paradigmatisch das Phänomen von Situationen, die man am liebsten ganz schnell vergessen möchte, die aber geradezu symptomatisch die Erinnerung dominieren.
Das künstlerische Agieren spielt sich auf diesem Feld zwischen Erinnern und Vergessen ab: es stöbert im Vergangenen, reichert sich an mit interpretierten Wahrheiten aus der Urzeit des eigenen Ich ebenso wie mit momentanen Signalen und Impulsen aus dem Kontinuum der Gegenwart und es vergisst Ergebnisse, ausgemusterte Schemata, altbacken Vorgedachtes - aus dem eigenen wie auch fremden Repertoire - all das um gleichsam aus dem verfügbaren Schatz des eigenen Inneren etwas in Projektionen und Transformationen abzutasten, das so einem unmittelbaren, "wahren" Simulacrum in noch nie gedachter Form möglichst nahekommt.
Wo die Kunstwissenschaft künstlerische Ergebnisse vergleicht oder tradierte Kontinuitäten aufbricht, agiert das künstlerische Individuum subjektiv in seinem Changieren zwischen (willentlichem) Erinnern und (lapsusartigem) Vergessen.

Die Lade der Träume
Das Erinnern an das eigene Ich und es prägende Verhaltensweisen bei gleichzeitiger Dekonstruktion strikter deduktiver Paradigmen bedingt das künstlerische Vorgehen von Birgit Jürgenssen. Ihr Atelier ist mindestens so aufgeräumt wie jenes von Cindy Sherman angeblich sein soll, ebenso zeichnet es sich durch die (heutzutage in Künstlerateliers völlig ungewöhnliche) Absenz von Computerscreens, Plottern oder Printern aus. Der Raum ist angefüllt von Requisiten ihrer Erinnerung: in Schachteln und Kästen, Schubladen und Regalen lagern und lungern ihre Objekte, Utensilien, Zeichnungen, Papiere, Stoffe, Gläser, Pinsel, Federn. Ihre Konzepte sind von der guten, alten gedanklichen Art ohne Clones und Pixels. Sie ist eine Traum-Tänzerin zwischen den Welten, zwischen der Erfahrung ihrer eigenen Körperlichkeit, ihrer Weiblichkeit, die eigentlich eine Mädchenhaftigkeit ist, der Projektion ihres Ichs, den Relikten ihrer Reisen, Erfahrungen, ihrer Bekanntschaften und Freundschaften, zwischen der Kontemplation östlicher Religionen und ihrer Rituale und der ironischen Preisgabe unserer westlichen Über-Zivilisation - ein Traum ist noch in der Schublade: der vom Fremden in der Welt, der ahnt.

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