Dorothee Baer-Bogenschütz
Subversive Sphinx. Birgit Jürgenssen, Protagonistin der feministischen Avantgarde
In: Kunstzeitung 2/2010, S. 14.

Manche kommen spät - und alles kniet nieder. Jetzt ist es wieder einmal soweit: Eine Ausnahmekünstlerin wird entdeckt. Leider hat sie nichts mehr davon. Birgit Jürgenssen wäre im vergangenen April 60 geworden. Doch seit September 2003 lebt sie nicht mehr in dieser Welt. Vielleicht aber in einer ihrer surrealistischen Traumsphären, fernab auf einem Planeten, wo jene "Verwelkten Blümchen" (z55) zu finden sind, die die Wienerin 1974 verführerisch mit Farbstift skizzierte? Die Blüten - Tulpen? Die sieht sie als Totenköpfe. Sie scheinen zu sprechen. Ein zentrales Thema der unter "Frauenkunst" rubrizierten Persönlichkeit ist die Metamorphose. 
Natürlich wussten Insider wie Peter Weibel und Klaus Honnef von der Zauberfrau. Es gab Ausstellungsbeteiligungen, der Soloshows waren und sind wenige. Letztes Jahr erschien die erste Monografie (bei Hatje Cantz), und Peter Weibel kürte die Künstlerin flugs zum Missing Link "nicht nur für die Geschichte des österreichischen Feminismus, sondern auch für die internationale Bewegung der Frauenkunst".
Damit ist alles gesagt: Keiner kommt fortan an ihr vorbei. Umso mehr überrascht die Zurückhaltung bei den biographischen Angaben: wenige trockene Fakten. Jürgenssen studierte demnach an der Wiener Universität für angewandte Kunst und war dort Assistentin unter anderem bei Maria Lassnig: 20 Jahre Lehre insgesamt. 
Offenbar erst anlässlich der Buchproduktion gefüttert, weiß die Wikipedia - "war eine österreichische Fotografin und Zeichnerin" - sonst gar nichts. Dabei entstanden neben den zweidimensionalen Werken zudem Objekte wie die Schreibtafel-Arbeit "Ich bin." (s46) oder "Netter Raubvogelschuh" (s9). Selbstbefragung ist ein Leitmotiv dieser intelligenten Person am "Pulsschlag einer Sinnlichkeit" (Jürgenssen). Das "Ich" schrieb sie Mae-West-Verehrerin mit Freude an der Verkleidung ihrer Kunst ein: "Die Person ist ein Produkt der Kombinatorik".
Sie habe die Stereotypen diagnostiziert, die "die Gesellschaft der siebziger Jahre für Frauen bereithielt, und sie erlebte diese auch am eigenen Leibe", heißt es in der jüngsten Einführung in ihr Oeuvre. Auf dem Cover ihr Konterfrei: Birgit Jürgenssen mit erhobenen Händen in altmodischer Bluse und den Worten "Ich möchte hier raus!" (ph17) im Ausschnitt. Ein wiedererkennbarer Stil war ihr weniger wichtig als die andauernde Verrätselung und Verpuppung mit hintergründigem Witz: "Für mich ist Selbstironie eine Form autobiografischer Strategie, um subversives und dekonstruktives Potenzial leichter zu vermitteln". Das Sphingische, Einzelgängerische und Sprunghafte teilt sie etwa mit Meret Oppenheim. Rund 3000 Arbeiten sind zu entschlüsseln. 50 zeigt nun die Wiener Sammlung Verbund (bis 10.3.). Es gibt noch viel Jürgenssen zu entdecken.

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