Gabriele Schor
Die Feministische Avantgarde
in: Emma, November/Dezember 2016

Die Museen sind voll mit Bildern nackter Frauen. Nicht ohne Grun verglich der französische Ethnologe Michel Leiris das Museum mit einem Bordell. Und die amerikanischen Guerrilla Girls fragten: „Do Women Have To Be Naked To Get  Into the Met. Museum? (Müssen Frauen nackt sein, um ins Museum zu kommen?) eniger als 5 Prozent der Künstlerinnen in der Modern-Art-Section des Metropolitan Museum of Art sind Frauen - aber 85 Prozent aller nackt Abgebildeten sind Frauen. Dieses Phänomen gilt nicht nur für das New Yorker Museum, sondern auch für viele andere Museen. Sexualität wurde jahrhundertelang durch den männlichen Blick kommuniziert. In den 1970er-Jahren erklärten viele Künstlerinnen, sowohl in den USA, wie auch in Europa, dem rein männlichen Blick auf die Frau eine radikale Absage und kreierten das ,Bild der Frau' erstmals in der Geschichte der Kunst kollektiv neu, nämlich aus er Perspektive der Frauen.

Für eine Frau war es unüblich, ein selbstständiges Leben als Künstlerin zu führen. Als Birgit Jürgenssen (ph1578) an der „Hochschule für angewandte Kunst in Wien an Lithografien arbeitete, meinte ein mitfühlender Assistent zu ihr: „Ach, Fräulein Jürgenssen, warum schleppen Sie sich denn mit den schweren Lithosteinen ab, sie werden doch eh bald heiraten. Oder ein Galerist schnauzte Renate Bertimann an: „Wozu soll ich Sie denn ausstellen, Sie haben doch eh einen Mann. Und Renate Eiseneg er erinnert sich, dass ihr Vater ihrer Mutter verbat, außerhalb der Familie arbeiten zu gehen. Vor dem Hintergrund der Kapitalismuskritik, der Civil-Right- und Antikriegsbewegung, der Studentenlnnen-Demonstrationen
und der Frauenbewegung taten sich Künstlerinnen in vielen Ländern zusammen; sie gründeten Galerien, Zeitschriften und Gruppen, schrieben Manifeste
und protestierten gegen Gruppenausstellungen, die Werke von Künstlerinnen grundsätzlich ignorierten. Lucy R. Lippard organisierte 1973 in den USA die Tour„c. 7,500 , erstmals mit Werken ausschließlich von Künstlerinnen. Und VALIE EXPORT kuratierte 1975, internationalen Jahr der Frau, die legendäre Ausstellung „MAGNA: Feminismus und Kreativität” in Wien.

Die zentrale Losung der Frauenbewegung war es, das Persönliche als etwas öffentlich Relevantes und Politisches aufzufassen. Frauen begannen, über Sexualität, Menstruation, Schwan erschaft, Mutterschaft, Schwangerschaftsabbruch, Ehe, Kindererziehun, Gewalt gegen Frauen und das Schönheits-Diktat öffentlich zu sprechen. Und Künstlerinnen griffen die Themen auf. Erstaunlich ist, dass etliche Künstlerinnen ganz ähnliche formale Strategien wählten, obwohl sie einander nicht kannten. Ich nenne diese herausragende Künstlerinnen-Bewegung rückblickend die „Feministische Avantgarde, um ihre historische Pionierleistung zu verdeutlichen. Connie Butler, Kuratorin der „WACK!-Show“ (die von 2007 bis 2009 durch die USA tourte und ebenfalls diese Künstlerinnenbewegung vereinte), nennt es „The Feminist Revolution“. Die kunstgeschichtliche Leistung dieser Künstlerinnen ist, dass ihnen eine Rochade gelungen ist: der Wandel vom Objekt - auf das der männliche Blick sie reduzierte - hin zum Subjekt. Und erstmals in der Geschichte treten diese Künstlerinnen kollektiv als Souverän auf.

Die britische Künstlerin Penny Slinger erklärt rückblickend im Interview mit Angela Stief: „Eine wichtige Rolle spielte derdamalige Stellenwert der weiblichen Sexualität. Ehrlich gesagt, es gab so gut wie kein Verständnis dafür, dass Frauen Spaß am Sex haben können. Im Sinne von ,Schließe deine Augen und denke an England! dachte man, dass sich die Frauen den Männern unterordnen und fügen. Geplant als ein Happening, trägt Slinger in ihren weitgehend unbekannten Fotocollagen von 1973 ein Hochzeitstortenkostüm und posiert lachend mit gespreizten Beinen. Sie klebt auf ihre Scham ein großes Auge, das eine enorme Suggestivkraft entfaltet. Verstärkt wird diese Anziehung durch den scheinbar repetitiven Titel „ICU, Eye Sea You, I See You“. Die Scham ist nicht mehr länger Ort der weiblichen Passivität, sondern wird zu einem sehenden und somit aktiven Organ, das Kontrolle über den männlichen Betrachter erlangt: I See You. Slinger: „Indem ich mich sowohl in die Rolle der Darstellenden als auch der Dargestellten begab, durchbrach ich die alte Subjekt-Objekt-Beziehung und machte mich zum Mittelpunkt meiner eigenen Kunst und meiner eigenen Sexualität. Ich reduzierte mich nicht auf einen stimulierenden Reiz und entkam so dem objektifizierenden, männlichen Blick. mehr

Auch die niederländische Künstlerin Lydia Scheuten hat in ihrer Performance „Sexobject" 1979 auf eindrucksvolle Weise die Diskriminierung der Frau als Lustobjekt inszeniert. Die Künstlerin trägt ein schwarzes Lederkorsett, das ihren Körper mit Gummibändern an einem Metallrahmen festbindet. Ihr Kopf ist einbandagiert. Vor ihr hängen an der and mit schwarzer Tinte gefüllte Luftballons. Die Künstlerin hält eine Peitsche in der Hand und schlägt mit großer körperlicher Anstrengung immer wieder auf die Ballons ein. Sie zerplatzen und die schwarze Tinte rinnt über den an die Wand geschriebenen Satz: „How does it feel to be a sexobject (Wie fühlt es sich an, ein Sexobjekt zu sein). Die Aggressivität der Aktion verdeutlicht das starke Aufbegehren. Schouten: „Solange Frauen weiter versuchen, Männern zu gefallen, ist das Bild, das sie von sich haben, nicht ihr eigenes Bild, sondern ein von Männern bestimmtes." Der Einsatz ihres weiblichen Körpers war für viele Künstlerinnen essentiell, wenngleich unterschiedlich.
Ewa Partum tritt in ihren Performances „Selbstidentifikation“ und „Frauen,
die Ehe ist gegen Euch nackt auf, um die 'Frau als Zeichen' herauszustreichen. Ulrike Rosenbach hingegen kleidet sich neutral mit einem weißen Bodysuit um ihren weiblichen Körper in ihre installativen Medienperformances einzubetten.
Die Amerikanerin Hannah Wilke schuf mit Kaugummi kleine Vulven und klebte diese wie Wunden auf ihr Gesicht und ihren Körper. In ihrer Performance „Super-T-Art“ von 1974 posiert sie provokant freizügig und inszeniert das Spiel der Verführung.

Die französische Künstlerin ORLAN entlarvt mit ihrer Performance „Le Baiser
de l'Artiste (Der Kuss der Künstlerin) die erotische Verfügbarkeit von Frauen. Auf der Kunstmesse FIAC 1977 bietet sie Passanten an, für fünf Francs einen Kuss von ihr zu kaufen. Die Performance löste einen Skandal aus, woraufhin ORLAN ihre Stelle als Kunstdozentin an der Kunsthochschule verlor. VALIE EXPORTs Performance „Tapp und Tastkino von 1968 kritisiert ebenfalls die Reduzierung der Frau auf ein Lustobjekt. Die Künstlerin hängt sich über ihre Brüste eine Box mit zwei Öffnungen, in die Passanten auf der Straße hineingreifen und 12 Sekunden an ihre Brüste grapschen dürfen. Diesmal findet der männliche Voyeurismus nicht im dunklen Kinosaal statt, sondern öffentlich auf der Straße. Die Frau steht dem Mann frontal gegenüber. Es ist die Frau, die Regie führt, sie beobachtet den Mann bei seinem Akt und kontrolliert ihn. Künstlerinnen wie Judith Bernstein und Renate Bertimann erkoren den Phallus als geeignetes Objekt, um patriarchale Machtstrukturen ironisch zu unterlaufen. Bertimann: „Meine so genannten 'phallischen Karikaturen', die den Allmachtswahn des Mannes ins Lächerliche ziehen, sind zugleich als Akt des Bewusstwerdens meiner Angst vor männlicher Gewalt zu sehen - und auch Befreiung von ihr. Die Künstlerinnen hatten es satt, von der Gesellschaft ausschließlich die Rolle als Mutter, Hausfrau und Ehefrau zugewiesen zu bekommen. Donna Henes, Françoise Janicot, Renate Eisenegger, Annegret Soltau und Elaine Shemilt wickelten mit Schnüren, Bändern oder Fäden ihr Gesicht bzw. ihren Körper kokonartig ein als Ausdruck, wie sehr Frauen damals in ihrem Handeln und Begehren einschränkt waren. Mierle Laderman Ukeles, Chris Rush oder Les Nyakes nehmen das Hausfrauen dasein in ihren Performances wortwörtlich und schrubben den Boden, womit sie den täglich monotonen Vorganveranschaulichen, der as weibliche Rollenverhalten konditionierte.

Viele der Künstlerinnen zeigten nicht nur das Dilemma, sondern auch den Ausbruch daraus. Die österreichische Künstlerin Birgit Jurgenssen kleidet sich 1976 wie eine Hausfrau und drückt ihre Hände und ihr Gesicht gegen eine Glastür auf der geschrieben steht: „Ich möchte hier raus! In einer anderen Arbeit hängt sich Jürgenssen 1975 eine aus lackiertem Blech geformte Küchenschürze über ihren Körper und legt in die Herdöffnung einen Laib Brot, als Anspielung auf die Redewendung „To have a bun in the oven . Auch Helen Chadwick stellt 1977 in London ihren Körper für die Performance „In the Kirchen in eine konstruierte Miniatur-Küche, ausgestattet mit Gasherd, Spüle und Durchlauferhitzer. Und Martha Rosler führt von A bis Z alle mit dem entsprechenden Anfangsbuchstaben beginnenden Küchengeräte vor. Ihre Video-Performance „Semiotics of the Kirchen von 1975 beginnt mit „apron“ (Schürze) und wird zusehend skurriler
und aggressiver. Die Werke der „Feministischen Avantgarde“ sind ironisch und wundervoll. Bei der künstlerischen Umsetzung aber ibt es Unterschiede: Während einige Künstlerinnen ihre Werke poetisch-sinnlich ausrichteten, vertraten andere einen politisch-aktivistischen Feminismus.

Die Künstlerinnen profitierten enorm von den neuen Medien Video, Film und Fotografie. Für sie war Konzeptkunst, Body Art, die Möglichkeit Performance und Aktionen zu machen, der ideale Nährboden, das auszudrücken, was sie bewegt. Jetzt konnten sie endlich von der männlich dominierten Malerei absehen und spontan ihre Ideen umsetzten. Cindy Sherman beispielsweise inszenierte schon, bevor sie ihre berühmten „Untitled Film Stills“ in New York aufnahm, als Studentin in Buffalo 1975 weibliche Identitäten, um gesellschaftliche Stereotypen und Klischees zu entlarven. Vor ihrem Fotoapparat auf dem Stativ verwandelt sie sich von einem bieder wirkenden, ungeschminkten Collegegirl in ein keckes, verführerisches Glamourgirl. Im Jahr 1954 geboren, gehört Sherman wie Francesca Woodman zu den jüngsten von ihnen. Sie empfand ihre älteren Kolleginnen Eleanor Antin, Lynda Benglis oder Suzy Lake als „Role Model“. Deren Einsatz ihres Körpers in der Kunst machte Sherman damals Mut, ihre eigene Kunst zu machen. Auch Lynn Hershman Leeson konstruierte eine weibliche Identität und ging jahrelang als „Roberta Breitmore“ um. Und Eleanor Antin entwirft unterschiedliche Personae, einmal als „King of Solana Beach“, dann als afroamerikanische Ballerina und als Krankenschwester Eleanor. Martha Wilson performt „A Portfolio of Models“ und verkleidet sich als Housewife, Lesbian oder Earth-Mother: „Das sind die Modelle, die die Gesellschaft mir anbietet. Ich habe sie alle irgendwann mal anprobiert, und keines hat mir gepasst. Im selben Jahr lotet Ale is Hunter inLondon mit ihrer Fotoarbeit „Identity Crisis von 1974 Fremd- und Eigenwahrnehmung aus und Lili Dujourie fotografiert 1977 in Brüssel einen Mann nackt auf dem Boden liegend, mit seinen langen Haaren und seiner zarten Statur sieht er einer Frau täuschend ähnlich. Dujourie wollte die Fragilität des Mannes zeigen. Gegen das propagierte Diktat der aufkommenden erbeindustrie, Frauen hätten schön und makellos zu sein, widersetzen sich auch originelle Arbeiten von Sanja Ivekovic, Rita Myers, Ewa Partum und Teresa Burga. Ins öffentliche Bewusstsein rückten Leslie Labowitz, Suzanne Lacy, Judy Chicago oder Nancy Spero die epidemische sexuelle Gewalt gegen Frauen.

Die Bewegung der „Feministischen Avantgarde war eine Emanzipationsbewegung. Es ging darum, die patriarchale Trennung von Privatleben und gesellschaftlichem Leben aufzuheben, denn die Wurzeln der Unterdrückung der Frauen liegen im so genannten „Privaten. Viel zu lange wurde diese Bewegung von der Kunstgeschichte ignoriert. Dabei haben diese Künstlerinnen Pionierarbeit geleistet. Avantgarde ist ein Begriff aus der französischen Militärsprache und bezeichnet eine Truppe, die vorausschaut. Seit dem 20. Jahrhundert bezeichnet Avantgarde eine Bewegung, die jenseits des Mainstreams eine Vorreiterrolle zugewiesen wird, weil sie ausgetretene Pfade verlässt und neue Wege geht. Der „Feministischen Avantgarde ist nichts Geringeres gelungen als ein bis heute anhaltender Paradigmenwechsel eine radikale Umwertun der Kunst.

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