Teresa Koester
Die Suche nach der weiblichen Identität

Vielschichtig und ironisch sind die Arbeiten der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen, die sich Zeit ihres Lebens mit der Rolle der Frau auseinandergesetzt hat. (ph16)

In gera­den, groß­zü­gi­gen Linien formen sich diese Worte auf dem Rücken von Birgit Jürgens­sen zu einem einpräg­sa­men, doppel­sin­ni­gen Satz zusam­men, der allzu beispiel­haft für das Werk der öster­rei­chi­schen Künst­le­rin steht: Jeder Mensch hat seine eigene Sicht­weise, aber auch seine eigene Erschei­nung. Und selbst diese entste­hen nicht einzig aus sich heraus, nicht ohne jeden frem­den Einfluss.

Viel­mehr – und hier findet nicht nur ihre Foto­gra­fie von 1975, sondern auch das lebens­lange künst­le­ri­sche Fragen und Hinter­fra­gen von Jürgens­sen ihren Mittel­punkt – mögen wir zwar selbst­stän­dig denkende Menschen sein. Doch immer sind es Gesell­schaft und Erzie­hung, sind es unsere Mitmen­schen, die unser Denken, unser Sein und Erschei­nen maßgeb­lich mitprä­gen. Als Teil der femi­nis­ti­schen Kunst­be­we­gung setzt sich Jürgens­sen in ihrem multi­me­dia­len Werk damit ausein­an­der. Ähnlich wie ihre Gleich­ge­sinnte im Geiste, Cindy Sher­man, die damit jedoch ungleich berühm­ter gewor­den ist, ist Birgit Jürgens­sen insbe­son­dere in ihrem foto­gra­fi­schen Werk zumeist sowohl Künst­le­rin als auch Modell, Subjekt als auch Objekt.  mehr

Weibliche Stereotypen 

Von Anfang an arbei­tete Birgit Jürgens­sen (1949 in Wien als zwei­tes Kind in eine Arzt­fa­mi­lie gebo­ren) in unter­schied­li­chen Medien. Subtil, weil viel­schich­tig und ironisch, fesselt ihr umfang­rei­ches, medi­en­über­grei­fen­des Werk, zu dem neben Foto­gra­fien ebenso Zeich­nun­gen, Skulp­tu­ren, Objekte aus unter­schied­li­chen Mate­ria­lien, Colla­gen, Aqua­relle, Lein­wand­ar­bei­ten und Druck­gra­phi­ken zählen. Vor allem ihre Foto­gra­fien sind es jedoch, mit denen Jürgens­sen ihre nach­hal­tigs­ten künst­le­ri­schen State­ments geschaf­fen hat, die den Tod der Künst­le­rin im Jahr 2003 über­dau­ert haben.

Indem Birgit Jürgens­sen Rollen annimmt und sich verklei­det, über­spitzt sie weib­li­che Stereo­ty­pen in ihren Foto­gra­fien so sehr, dass sie sich als solche selbst entlar­ven. Die Haus­frau, die Frau als Mutter und Ehefrau oder auf ihre Schön­heit und/oder Körper­lich­keit redu­ziert – dies alles sind gesell­schaft­lich geschaf­fene Konstrukte, gegen die Jürgens­sen und andere Künst­le­rin­nen der soge­nann­ten Femi­nis­ti­schen Avant­garde in der Stim­mung der 68er und der daraus entstan­de­nen Frau­en­be­we­gung antre­ten. 

Die Grenzen gesellschaftlicher Wahrnehmung 

Indem sie sich jene zu Eigen machen und dekon­stru­ie­ren, humor­voll bis ironisch kommen­tie­ren, bis vor allem die Frage nach der Iden­ti­täts­bil­dung übrig bleibt. Was die Künst­le­rin­nen bei aller Unter­schied­lich­keit nämlich teilen: die Erfor­schung der mensch­li­chen Iden­ti­tät, zumeist der weib­li­chen. Sie loten die Gren­zen gesell­schaft­li­cher Wahr­neh­mung und Denk­mus­ter aus, um zu erfor­schen, wie tief kultu­relle Konstrukte im Kopf eines jeden Menschen veran­kert sind – wie sehr müssen zum Beispiel weib­lich konno­tierte Formen und Stereo­ty­pen abstra­hiert werden, um nicht mehr als solche verstan­den zu werden?

Werke wie „Ohne Titel (Selbst mit Fell­chen)“ von 1974 stel­len dabei die in der Kunst ebenso wie in Mythen zu findende Korre­la­tion von Frau und Tier in den Vorder­grund; späte Arbei­ten wie die Serie „Zebra“ und Jürgens­sens Farb­fo­to­gra­fien in einem Konkav­spie­gel („Ohne Titel“, 1979/80) nehmen die Iden­ti­tät noch verstärk­ter ausein­an­der, lösen sie sogar auf. Dass die Frau hier­bei seit Jahr­hun­der­ten die Projek­ti­ons­flä­che für gesell­schaft­li­che Vorstel­lun­gen ist, werden in ihren „Körper­pro­jek­tio­nen“ aus den Jahren 1987 und 1988 beson­ders offen­bar. Die Foto­gra­fien von Körper­pro­jek­tio­nen sowie die Zerr-, Schat­ten- und Bade­wan­nen­bil­der gehen verstärkt über das Gegen­ständ­li­che hinaus und begin­nen, die Vorstel­lun­gen wort­ge­treu umzu­set­zen.

„Ich möchte hier raus!“ 

In ande­ren Arbei­ten wiederum zeigt Birgit Jürgens­sen expli­zit die gesell­schaft­lich veran­kerte Wahr­neh­mung der Frau bezie­hungs­weise ihres Körpers als Ober­flä­che und Projek­ti­ons­flä­che im Alltag auf, wenn die Künst­le­rin buch­stäb­lich Rollen anlegt: Klei­dung, Schuhe, Make-Up, Mani­küre, all dieser weib­li­che Flit­ter­kram ebenso wie die mate­ri­el­len Mani­fes­ta­tio­nen der Frau­en­ar­beit werden in ihrem Werk thema­ti­siert, aller­dings nicht aufge­wer­tet, sondern neu veror­tet und inter­pre­tiert. Birgit Jürgens­sen wird zur Diva, zum Engel, zur Haus­frau – nur, um in ihnen selbst ihre Auflö­sung zu fordern. Der Titel einer ihrer bekann­tes­ten Arbei­ten von 1976 spricht für sich: „Ich möchte hier raus!“

„So oft ist die Frau Kunst­ob­jekt, selten und ungern lässt man sie selbst zu Wort oder Bild kommen. Ich möchte einmal die Möglich­keit haben, mich nicht immer nur mit Kolle­gen, sondern auch mit Kolle­gin­nen verglei­chen zu können,“ schreibt Jürgens­sen 1974 an den DuMont-Verlag und fordert einen Sammel­band über Künst­le­rin­nen. Die Anfrage wird abge­lehnt. Ebenso wie eine zweite. Umso verstärk­ter nutzen Jürgens­sen und andere öster­rei­chi­sche sowie inter­na­tio­nale Künst­le­rin­nen ihrer Zeit ihre Kunst, um ihren Anlie­gen eine Bühne zu verschaf­fen.

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