Christiane Fricke
Birgit Jürgenssen
In: Handelsblatt, 14.1.2011.

Birgit Jürgenssen wäre beinahe durch die Raster der Kunstgeschichte gefallen. Ihre Wiederentdeckung ermöglicht der österreichische Stromkonzern Verbund. Eine Wiener Ausstellung spürt einem Werk voll erstaunlicher Bildfindungen, voller Poesie und erotischem Esprit nach.


Starke Frauen müssen provozieren, um gehört zu werden. Das lehren die Karrieren der beiden feministischen Künstlerinnen aus Wien, Valie Export und Elke Krystufek. Export brachte 1968 das konservative Wien auf die Palme, als sie ihren Freund Peter Weibel als Hund Gassi führte. 30 Jahre später feiert die jüngere Krystufek mit pornografischen Performances und aggressiver Malerei Publikumserfolge.
Birgit Jürgenssen (1949-2003) war auch stark, hatte aber nichts dergleichen zu bieten. Weder den Mut zum öffentlich praktizierten Tabubruch noch einen wieder erkennbaren Stil, der ihre Durchsetzung auf dem Kunstmarkt erleichtert hätte. An der Wiener Hochschule für angewandte Kunst ließ sie sich 1968 bis 1971 in graphischen Techniken ausbilden und musste sich anhören: "Ach, Fräulein Jürgenssen, warum schleppen Sie sich denn mit den schweren Lithosteinen ab, Sie werden doch eh bald heiraten." "Fräulein Jürgenssen" ließ sich nicht beirren, heiratete und arbeitete hart, auch als Lehrerin an Hochschule (1980/81) und Kunstakademie (ab 1982). Dort etablierte sie die erste Fotoklasse. Die Anerkennung ihrer Studenten war ihr bald sicher; doch die der Kunstwelt ließ lange auf sich warten. Jetzt würdigt sie eine dicht gehängte Retrospektive im Kunstforum Wien der Bank Austria. mehr

Zu entdecken ist ein Werk voll erstaunlicher Bildfindungen, voller Poesie und erotischem Esprit. In den feinen, mit viel Liebe zum Detail ausgearbeiteten Hausfrauen-Zeichnungen umkreist Jürgenssen gesellschaftliche Zustände, wie sie Anfang der 70er-Jahre noch selbstverständlich waren. Krasse Klischees bringt sie zu Papier wie die Frauengruppe, die mit Schürze und Kopftuch den Boden schrubbt (z402). Anstelle von Lappen wringt sie kleine Mischwesen aus, halb Mann, halb Phallus. Auf einem anderen Blatt rüttelt eine zum Tiger mutierte Frau mit Küchenschürze an den Gitterstäben ihres Haushaltskäfigs (z401). Zu den bekanntesten Arbeiten gehört eine Schwarz-Weiß-Fotografie von 1976, heute im Besitz des Centre Pompidou: "Ich will hier raus" (ph17) steht auf einer Glasfläche geschrieben, hinter der Jürgenssen, mit adrettem weißem Spitzenkragen bekleidet, ihre Handflächen und ihr Gesicht mit verzweifelter Miene gegen das Glas presst.
Militanz war Jürgenssens Sache nicht. Wohl aber eine subversive, ironisch distanzierte Herangehensweise. Mit leichter Hand kombinierte sie unmögliche Dinge und schuf so Bilder, die starke und ambivalente Empfindungen auslösen. Surrealistisch inspirierte Künstlerinnen wie Meret Oppenheim und Louise Bourgeois waren ihre Vorbilder. In der Fotoarbeit "Ohne Titel (Selbst mit Fellchen)" (ph679) präsentiert sie sich schutzbedürftig und zugleich animalisch dreist. "Als Verführte möchte ich wieder verführen und mit visuellen Mitteln ein Gefühl der Sinnlichkeit erzeugen", bekennt die Künstlerin. Metamorphosen, Masken und Rollenspiele ziehen sich durch ihr ganzes Werk. Jürgenssen hat den männlich geprägten Blick auf die Frau gespiegelt, aber in subtilen Verwandlungen für neue Sichtweisen geöffnet.
Das Erotische ist allgegenwärtig. In drastisch-ironischer Zuspitzung wie bei ihrem tragbaren Aktions-Objekt "Hausfrauen-Küchenschürze" (ph1578) (1975), einem umgeschnallten Herd, aus dem ein Brot wie ein Phallus herausragt, oder in sublimierter Form wie in der dreiteiligen Foto-Serie "Ohne Titel (Engel)" (ph808) (1996/97). Mit dem Schemen eines anmutigen Frauenkörpers hinter einem lichten Vorhang verkörpert sie ein Sehnsuchtsbild und in gewissem Sinne ein Gegenbild zu "Ich will hier aus" (ph17). Es erzählt den Wunsch nach Einlass in eine andere Welt aus der umgekehrten Perspektive des Begehrens.
Normalerweise hängt das Engel-Ensemble im Büro von Wolfgang Anzengruber. "Es ist mein Lieblingsbild", erklärt der Vorstandsvorsitzende des Stromkonzerns Verbund. "Ich habe es mir selber ausgesucht." Aus 50 Arbeiten konnte er wählen. Dieser stattliche Bestand sucht weltweit seinesgleichen, ebenso wie das Profil der Unternehmenssammlung. Sie hat ihren Schwerpunkt auf der internationalen feministischen Avantgarde.
2008 hatte Verbund unter Federführung seiner Sammlungskuratorin Gabriele Schor das Jürgenssen-Konvolut erworben und 2009 zweisprachig veröffentlicht. Dies war der erste Schritt, um die längst überfällige internationale Anerkennung der Künstlerin einzuleiten.
Trotz regelmäßiger Präsenz auf den Kunstmessen von Köln und Basel ist Jürgenssens Werk ein noch weitgehend ungehobener Schatz. Eine Rolle spielt auch, dass Wien zu lange kein guter Platz für die zeitgenössische Kunst war. Den Diskurs beherrschten zudem andere Künstler und Tendenzen, zuallererst die in den 1980er-Jahren wieder entdeckte Malerei mit Köln als bedeutendem Handelszentrum. Galeristen mit einem weniger eingängigen, eher konzeptuellen und multimedialen Programm wurden marginalisiert. So gelangten von Jürgenssen immer nur ausnahmsweise Arbeiten in Museums- und Privatsammlungen. Doch inzwischen ist auch das Interesse renommierter Museen geweckt und der Wiener Galerist und Hüter ihres Lebenswerks, Hubert Winter, befindet sich in einer schwierigen Lage. Keinesfalls will er das Oeuvre vorzeitig in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Rund 3.500 Arbeiten hat ihm Jürgenssen hinterlassen, vor allem farbige Zeichnungen, Fotoarbeiten und surreale Objekte. „Als Künstlerin arbeitete sie exzessiv, nur für sich", erinnert sich Winter. Wenn es nach ihm ginge, sollte die Tate Modern in London lieber eine Ausstellung organisieren, als drei bei ihm angefragte Zeichnungen zu erwerben. "Das Werk muss zuerst ausgestellt und bekanntgemacht werden", fordert er. Auch die Preise hätten sich noch nicht eingependelt. "Ich taste mich an ein mögliches Niveau noch heran", erklärt der bedächtige Galerist.
Hubert Winter entlässt deshalb nur relativ wenig Verkäufliches in den Markt und verlangt Schutzpreise mit Abschreckungspotenzial. Die ersten Ankäufe des Stromanbieters Verbund bewegten sich noch in einer Größenordnung von beispielsweise 12.000 Euro für die neunteilige Fotoserie "Totentanz mit Mädchen" (1979/80). Für frühe Zeichnungen setzte Winter zuletzt 30.000 Euro in der Spitze an. Jetzt würde er 45.000 Euro verlangen. "Vor zehn Jahren hätte niemand für 5.000 Euro eine Zeichnung gekauft", erinnert sich Winter mit leisem Schmunzeln.
Preislich hat Jürgenssen damit das Niveau der Verbund-Ankäufe von Arbeiten Cindy Shermans und Hannah Wilkes erreicht. Das dokumentiert auch die von Winter soeben eröffnete Einzelschau mit einer Werkgruppe großformatiger Fotogramme (1983-87). Sie liegen bei jeweils 45.000 Euro. Alle sind Unikate, die ihr Entstehen chemischen Dunkelkammerprozessen und nachträglich aufgebrachten Kratzspuren verdanken. Eine weitere Facette einer lebenslang experimentierfreudig gebliebenen Künstlerin.

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