Ryan Gander ist ein schlechter Maler – behauptet er jedenfalls. Ein Jahr lang hat er Tag für ein Selbstporträt gemalt, aber danach alle 365 Bilder zerstört. Ob beide Aussagen – vom miserablen Maler und der Zerstörung der Bilder – überhaupt stimmen, ist freilich nicht nachprüfbar. Der Brite hat offenbar nur die 31 Glaspaletten aufbewahrt, die ihm im Mai 2012 zum Mischen und Probieren der Farben dienten. So kann sich der Betrachter nun lediglich anhand der Farbreste und Pinselstriche ein ziemlich vages Bild von den 31 Porträts machen. Auch der weitere Rundgang durch die Ausstellung in der Frankfurter Schirn Kunsthalle wird den Besucher irritieren, bekommt er doch kaum ein Künstlerantlitz zu sehen.  

Die Schau heißt lapidar ICH, geschrieben in Großbuchstaben, die jedoch mit einer zarten Linie durchgestrichen sind, als gäbe es das Subjekt nicht mehr. Dessen nahes Ende wurde oft von Philosophen beschworen, erst im Maschinen-, dann im Computer-Zeitalter. Tatsächlich belegen die rund 40 Werke aus den 60er-Jahren bis heute die Suche der zeitgenössischen Künstler nach dem eigenen Ich, das sie nur schemenhaft aufblitzen lassen. Freilich ist das über 500 Jahre alte Genre der künstlerischen Selbstbespiegelung nicht erst seit Facebook, Twitter, Photoshop, Selfie & Co. in einer tiefen Krise.   mehr

Das Handy hat zwar zu einer „Renaissance des Selbstbildes“ geführt, wie Schirn-Direktor Max Hollein konstatiert, aber nur im Alltag der meisten Menschen mit den Selfies. Die Künstler indes spielen, mal wieder, nicht mit. Sie entziehen und verweigern sich dem Massenphänomen der Selbstinszenierung, suchen nach anderen Ideen des Abbildes. Sie verstecken sich, wollen auf Distanz zum Betrachter bleiben. Authentisch zu sein heißt offensichtlich für Künstler, sich partout nicht zu zeigen. Begonnen hat diese Verweigerungshaltung bereits in den 60er-Jahren, „als die Malerfürsten vom Sockel gestürzt wurden“, meint Kuratorin Martina Weinhart. Nach dem Ende des Geniekultes fand sich der Künstler auf Augenhöhe mit dem Betrachter wieder und erprobte fortan alle Arten der Selbstdarstellung, er unternahm quasi einen „Bildersturm aufs eigene Ich“, so Weinhart, die vor rund 15 Jahren über das „Selbstbild ohne Selbst“ promoviert hat.  

Dieser Bruch ist gut dokumentiert in einem Seitenkabinett, einer Zeitkapsel der 60er- und 70er-Jahre, wo Robert Morris’ „Brain Portrait“ von 1963 hängt, eine Messung der elektrischen Ströme seines Gehirns. Dieses Elektroenzephalogramm ist im strengen Sinne ein Selbstbildnis, da es Morris’ Innenleben zeigt, der sich nach eigener Aussage bei der Untersuchung ganz auf sich selbst konzentrierte. Doch die grauen Zickzacklinien auf weißem Papier bringen uns nicht das Wesen des Künstlers näher, wie es normalerweise die Gesichtszüge eines gemalten oder gezeichneten Porträts verraten.  

Ein feines ironisches Spiel mit dem eigenen Ich hat der US-Konzeptkünstler Morris vor mehr als 50 Jahren betrieben, ähnlich wie die damals aufkommende Body-Art. Friederike Pezold etwa formte 1973 mit den Händen ihre Brüste in verschiedenste Stellungen; ein witziges Spiel, dessen frauenbewegt-emanzipatorischer Akt heute kaum noch bemerkt wird. Birgit Jürgenssen hingegen ließ sich 1975 mit bloßem Rücken fotografieren (ph16) , auf dem der doppeldeutige Satz stand: „Jeder hat seine eigene Ansicht“. Die schon damals grassierende Verweigerungshaltung wird auch sichtbar an Arnulf Rainers „Face Coloration“ von 1969, einer farbigen Übermalung seines überdimensionalen Porträtfotos. So ist Rainers Antlitz nur noch an Augenbrauen, Nase, Ohren und Haaren zu erahnen.  

Dieses Versteckspiel vor dem eigenen Ich setzt sich bis heute in etlichen Varianten und Spielarten fort, mit Ausnahme der figürlichen Maler wie Johannes Grützke oder Michael Triegel. Aber die blendet die Schau aus und stellt nur Künstler vor, die das Porträt trickreich umspielen. So ist das Ich in dieser Schau fast immer ein anderer – wer könnte das humorvoller zeigen als Erwin Wurm? Der „Scherzkeks der Gegenwartskunst“, so Weinhart, hat 36 Gurken aus Acyrl einzeln auf Podeste gestellt. Und diese Gurken unterscheiden sich in Größe und Form erheblich voneinander, wie jedes Individuum auch.  

Jonathan Monk hingegen ist noch relativ nahe am traditionellen Abbild. Der Abguss seines Kopfes ähnelt einer antiken Büste, nur die Nase fehlt. Die hat der Künstler freilich eigenhändig abgeschlagen, wie auf dem Titelschild zu lesen ist. Das klassische Selbstporträt ist tot, will Monk sagen. Schräg gegenüber hat Abraham Cruzvillegas 148 Papiere an die Wand gepinnt, von Rechnungen über Fahrkarten bis zu Postkarten. Wenn man sie studieren würde, könnte man einiges über den mexikanischen Künstler und seine Lebensweise erfahren. Doch Cruzvillegas hat alles hellgrün übermalt, er will offenbar nichts von sich preisgeben. Die zeitgenössischen Künstler lassen an die Stelle des Selbstbildnisses allerlei Statthalter treten, vom Gehirnbild bis zur Zettelsammlung. Und Jack Pierson schickt in einer angeblichen Selbstproträt-Serie viele Männer vor die Kamera, er selbst kneift aber.  

Das Werk ist wichtiger als die dahinter stehende Person, lautet die unmissverständliche Botschaft. Das gilt wohl auch für Sarah Lucas. Sie hat sich auf einem Riesenei porträtiert und stellte dabei ihre Stiefel geschickt vor den eigenen Kopf. Mit dieser trotzigen Geste tritt sie dem Betrachter fast ins Gesicht – offenbar will die Britin einfach nur ihre Art von Kunst machen, ohne sich dabei zeigen zu müssen. Noch radikaler, aber weniger aggressiv ist Alicja Kwade. Sie hat alle 22 chemischen Elemente des menschlichen Körpers in Glasmapullen gefüllt und sauber aufgereiht, vom Kohlenstoff bis zum Aluminium. Der Mensch ist nur eine Ansammlung seiner Bestandteile, lautet Kwades nüchternes Fazit.  

Mit derlei kritischen oder ironischen Beiträgen umgeht die Schau klug die grassierende Selfie-Mode, erliegt ihr am Ende aber doch mit dem „digitalen Fußabdruck“ von Florian Meisenberg. Der lässt uns jede Aktion an seinem Smartphone live miterleben, vom Online-Einkauf bis zum Telefonat – ein gläsernes Selbstbild, das niemand will.

zum Anfang