Natascha Burger
Der Kern ihrer Kunst: Birgit Jürgenssens Notiz und Skizzenbücher.
In: Felicitas Thun-Hohenstein (Hrsg.): Self-Timer Stories, Schlebrügge 2015, S.142

Der Kern ihrer Kunst: Birgit Jürgenssens Notiz und Skizzenbücher.

Als permanent Denkende und Arbeitende hat sich Birgit Jürgenssen (1949 – 2003, Wien) einen umfangreichen Fundus an Ideen in Form ihrer zahlreichen Notiz- und Skizzenbücher angelegt. Zwischen Zeichnen und Schreiben entstehen Gedankenskizzen zu aktuellen Arbeiten und Ausstellungen, mögliche Impulse für ihre StudentInnen an der Akademie mitunter ausgearbeitete Konzepte und Textpassagen. Technikbeschreibungen, Werkerklärungen oder ausformulierte Statements notiert sich Jürgenssen in Vorbereitung für Katalogbeiträge oder Interviews. Als Leser bekommt man sehr schnell den Eindruck „ (...) als biete das Notizbuch die „Insider-Story“, den „schnelleren Zugang“ zur Seele der Person, die das Notizbuch führt, und ebenso den schnelleren Zugang zur Entstehung ihrer Ideen und Errungenschaften. Es ist, als sei man in die Geheimnisse eines alchemistischen Labors eingeweiht, beseelt von ihren allzu menschlichen Marotten und Schwächen.[1] mehr

Bereits in ihrer Kindheit begann Birgit Jürgenssen erste Skizzen in ein Schulheft zu zeichnen. Entstanden ist das faszinierende Werk einer Achtjährigen - „BICASSO Jürgenssen“. Schon der Titel bezeugt Jürgenssens bestechenden Ideenreichtum. Als Kind abgekürzt „Bi“ genannt, geht sie gekonnt die namentliche Symbiose mit Picasso ein. Das schmale Schulheft wird Seite um Seite mit Bildzitaten des spanischen Malers gefüllt. Es entstand das erste Skizzenbuch, welches Jahre später als Faksimile veröffentlicht wurde.

In Birgit Jürgenssens Nachlass finden sich bis heute mehr als 80 dieser Arbeitshefte, Notiz- und Skizzenbücher. Eine bemerkenswerte Dokumentation ihres Schreibens und Denkes. Sie definieren Jürgenssen als unglaublich belesene, bibliophile Denkerin und zeigen ihre individuelle Wissensaneignung. Beschäftigt man sich eingehender mit diesem persönlichen Archiv wird Jürgenssens intensive und permanente Auseinandersetzung mit Philosophen und Autoren sichtbar. Zitate und Gedichte werden neben flüchtigen Gedanken notiert. Literatur war für Jürgenssen eine unstillbare Leidenschaft und unverzichtbarer Bestandteil ihrer Kunst: “Sehr früh habe ich begonnen, mich mit surrealistischer Literatur und Kunst zu beschäftigen und meine Arbeiten sind dann auch aus einem Wechselspiel zwischen Literatur und Lebensalltag entstanden. Es war für mich unmöglich zu zeichnen ohne ein Stück Literatur im Kopf zu haben.” [2]

Seite um Seite finden sich Konzepte zu bevorstehenden Ausstellungen sowie Ideen zu neuen Arbeiten und zeigen Jürgenssens Herangehensweise bzw Arbeits- und Denkprozess - den Kern ihrer Kunst. Denn für jede Ausstellungsbeteiligung wurde Neues produziert. Niemals hätte sie eine Arbeit mehrfach gezeigt.

Heute sind diese persönlichen Aufzeichnungen eine faszinierende Quelle, die die Komplexität ihrer intellektuellen und künstlerischen Interessen auf wunderbare Weise porträtiert. Man kann miterleben wie sich das Denken entwickelt, bekommt einen Einblick in die Genese, Arbeitsrituale der Künstlerin. Ein freier chaotischer gleichsam poetischer Prozess, der Jürgenssens Scharfsinn und Sensibilität beweist.

[1] Michael Taussig, Fieldwork Notebooks / Feldforschungsnotizbücher, in: 100 Notes – 100 Thoughts / 100 Notizen – 100 Gedanken, dOCUMENTA 13, S.17

[2] 'Alles fliesst, bedingt und durchdringt einander...' Felicitas Thun-Hohenstein spricht mit Birgit Jügenssen, in: Carola Dertnig, Stefanie Seibold (Hrsg.): let's twist again. Was man nicht denken kann, das soll man tanzen. Performance in Wien von 1960 bis heute (Gumpoldskirchen/Wien: D.E.A., 2006), S. 272-279.

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