Edith Futscher
Birgit Jürgenssens Tänze
In: Multitudes 27, 2007, S. 151-155.

Birgit Jürgenssen hat in ihren fotografischen und grafischen Arbeiten der 70er Jahre vielfach Strategien der Clownerie, des Clownesken verfolgt und mit den Mitteln der Ironie und Parodie zumeist Geschlechterverhältnisse und Darstellungskonventionen von Weiblichkeiten in einer dezidiert feministischen Bildsprache aufs Korn genommen. Sie kommentierte und transformierte dabei vielfach auch die Ikonographie, die spezifische Maskerade der vor allem österreichischen Dame und auch Hausfrau der Nachkriegszeit. In den Jahren 1979 und 1980 sind aber auch mehrere Serien von Fotografien entstanden, die Maske und Maskenhaftigkeit in einen archaisierenden Zusammenhang stellen, die in einen Resonanzraum der Volkskultur und - wie in Totentanz mit Mädchen (ph1340) (1979/80) - auch des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bildes hineinspielen. 1 Es kommt in Totentanz mit Mädchen ein Konzept von Maske zum Einsatz, das selbstredend Person-Sein in seiner Flüchtigkeit erst konstituiert und von demher den kritischen Repräsentationsformen um maskenhafte Weiblichkeit, um Weiblichkeit als Maskerade vorgängig ist, wiewohl die Begegnung von Mädchen und personifiziertem Tod als Konstruktion eines möglichst anschaulichen Gegensatzes Teil der Geschlechtermetaphysik ist. Es ist eine Maske, die an- und abgenommen werden kann, die als Gegenüber eingesetzt wird (ph1334) und auch als Verbergung; eine Maske, die anheimgegeben ist, liebkost wird, an die sich Birgit Jürgenssen auch anschmiegt (ph4) . Der monströse Schatten als jeweils Dritter synthetisiert in der Entkörperlichung die Konfrontation des nackten oder mit Tüchern bedeckten, bekleideten Mädchens mit der Maske des Todes (ph7) - alle drei aber erscheinen auf einem vertikal gehängten weissen Leinen, einem Leichentuch, und figurieren zusammen eine vera icon, was vor allem die Faltenlegung des Tuches suggeriert. Als Kippbilder zwischen Horizontalität - in der Anlehnung an das Totenbett - und Vertikalität einerseits und andererseits in den gezielten Schattenwürfen sprechen die Fotografien auch einen Zusammenhang von Aufbahrung und Bildwerdung, Verlust und Bergung an - Ursprungsmythen der Portraitkunst. 2  mehr

Während die Begegnung von Tod und Mädchen im frühen 16. Jahrhundert oftmals als Unrechtmäßigkeit, als Raub dargestellt wurde, so etwa bei Hans Baldung Grien, wo der dunkle und finstere oder skelettene Tod sich in mehreren Bildfassungen von hinten nähert, das nahezu nackte und hellhäutige Mädchen an den langen Haaren packt und gewaltsam herumzureissen, mit sich zu reissen, zu küssen versucht 3, ist es hier das Mädchen, das den Tod in Armen hält, sich auf die Begegnung einlässt. Sie scheint nicht zu sagen: "Vorüber! Ach vorüber!/Geh, wilder Knochenmann! Ich bin noch jung, geh, Lieber!/Und rühre mich nicht an"; sie scheint vielmehr den Worten des Todes: "Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!/ Bin Freund und komme nicht zu strafen./ Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,/ Sollst sanft in meinen Armen schlafen" bereits Glauben geschenkt zu haben. 4 Der Tod und das Mädchen in der Exklusivität der individuellen Begegnung ist hier verknüpft mit der danse macabre, deren szenisches Element in der spätmittelalterlichen Malerei und Druckgraphik häufig in Figurenreihen aufgelöst wurde, wo jeweils ein Knochenmann einem Lebenden - die Lebenden wurden oftmals entsprechend ihres Standes hierarchisch gereiht - die Hand reicht. 5 Diesen Tanz löst Birgit Jürgenssen in eine Serie an Fotografien auf 6 , wo in immer neuen Posen oder Formen der Begegnung eine intime Beziehung zu zweit, eine wechselseitige Verführungsszenerie vorgestellt wird. Birgit Jürgenssen, die durch ihr gesamtes fotografisches Œuvre hindurch zumeist selbst im Bild ist, ohne dass ein Portrait-Zusammenhang, der über das Person-Sein durch die Maskierung hinaus ginge, aufgerufen wird - das Kabel des Selbstauslösers als Nabel der Inszenierung ist wie auch bei Cindy Sherman demzufolge Bestandteil vieler Fotografien - ermächtigt sich im Totentanz, die Begegnung zu steuern. Es ist dementsprechend kein männlicher Blick, der das Mädchen als Eine der zwei Anderen bestimmt - zumindest soweit, als der Konstitution durch den Blick des Anderen überhaupt zu entkommen ist; Birgit Jürgenssen füllt die Rolle des Mädchens, eignet sich diese an, wodurch der konstruierte Gegensatz in sich zusammenfällt. Was an Stelle dessen ins Auge sticht sind Angleichungen: Angleichungen von weissem Gesicht und weisser Schädel-Maske, von Rückgrat und Stab, der erlaubt, die Maske vor sich her zu tragen, wie dies bei spätmittelalterlichen Prozessionen auch wohl geschehen sein mag, der Länge der beiden Körper, in einigen Aufnahmen auch eine Parallelisierung von bemalten Brustwarzen, die durch ein transparentes Tuch hindurchscheinen, und den schwarzen Augenhöhlen der Maske, vor allem aber das Verschmelzen der Schatten, da und dort. Birgit Jürgenssen in ihrem Reigen mit der Maske des Todes, der nicht als gefährlicher Wiedergänger erscheint, 'tanzt' in einigen Aufnahmen nackt, in anderen verschiedentlich betucht. Einfache drapierte Tücher, einmal auch ein Hemd, erinnern auch an das Motiv vom Raub des Totenhemdes als einem letztgültigen Hineinziehen in den Bannkreis des Todes. 7 Nicht von ungefähr sind die Fotografien in Schwarz und Weiss gehalten: die Nicht-Farben ermöglichen sowohl ein Auseinandertreiben des Gegensatzes als auch eine größtmögliche Annäherung in den Grauschattierungen und sie erlauben auch, den quasi mythischen oder auch arachischen Raum, in den Jürgenssen auch in anderen Serien dieser Jahre hineingearbeitet hat, zu eröffnen; es ist dies ein Raum, der einerseits von SurrealistInnen vor allem auch durch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Ethnographie, zu deren ästhetischen Konzepten und Verfahrensweisen sich Jürgenssen bekannt hat 8 , evoziert wurde, den jüngst aber auch Elfriede Jelinek mit ihren Prinzessinnendramen: Der Tod und das Mädchen bespielt hat. 9 In einem Barthes'schen Verständnis von Mythos kommen bei Jelinek verwunschene Prinzessinnen, wie wir sie aus Märchen kennen - das schöne Schneewittchen, deren Suche nach Wahrheit hinter den sieben Bergen darin mündet, dass sie sich selbst als Gejagte und Getötete in einem gläsernen Sarg wiederfindet, oder Dornröschen, das in Schlaf "eingeweckt" darauf wartet, dass sie von einem Prinzen geküsst und dadurch "aufgeweckt" werde (und wozu, ist die Frage: "Welches Land gedenken Sie zu regieren? Ich wette meins") 10 - gleichermassen zu Wort wie eine Jackie (Kennedy) in ihrer Rivalität mit Marilyn Monroe oder auch Sylvia (Plath) und Inge (Bachmann), die sich entlang Marlen Haushofers Wand das Hirn zermarten, wenn es darum geht, eine weibliche Sprache, weibliche Autorschaft für sich zu fassen und darin auch gesehen zu werden. Im Bespielen dieses mythischen Raumes arbeiten Jürgenssen und Jelinek aber mit konträren Mitteln: Während letztere als Erbin einer Patricia Highsmith und ihrer Little Tales of Misogyny (1977) einen quasi männlichen Blick sarkastisch zuspitzt, modifiziert Jürgenssen das Bildthema aus einer weiblichen Perspektive.

In der Auswahl von vier Fotografien der Serie und auch in der Anpassung im Format für den Druck ihres Kataloges Früher oder später 11 hat Birgit Jürgenssen Totentanz mit Mädchen der zeitgleich entstandenen Serie Ohne Titel (ph1423-ph1427) (1979) anverwandt, wo ihr Körper in einer burlesken Körper-Maske steckt. Ganz im Gegensatz zum Totentanz scheint hier wirklich ein Gerangel im Gange zu sein, eine Situation der Beengtheit von vermeintlich Zweien in einer Maske und spielerischer Bedrängnis; Kopf und Oberkörper sind verschmolzen zu einer Tüte; die kindlich aufgepinselten Kürzel der weiblichen Genitalien fügen sich zu einem Gesicht. Zusammen mit den stoffenen Beinen der Körper-Maske entsteht eine Vierbeinerin - Maske und Puppe, Tier und Mensch sind verquickt: Wieviel Personen haben Platz in einer Maske? Wieviele Masken (ver)trägt eine Person? Und wodurch unterscheiden sich Maske, Gesicht und Körper? Im Alternieren von Vorder- und Rückansichten der gereihten Fotografien, einem szenischen Element, wird hier eine Drehbewegung angedeutet, ein Tanz. Die Verkehrung von Brüsten und Augen, Scham und Mund gleich wie der Hinweis auf das Materiell-Leibliche des Menstruierens im Totentanz und eben auch das tänzerische Element sind allesamt Elemente eines närrischen, karnevalesken Treibens, die - mit Bachtin gesprochen - auf Qualitäten des Festes im Sinne einer produktiven Verkehrung der gesellschaftlichen Ordnung, eines gegenkulturellen Gelächters, das die Auseinandersetzung mit dem Tod keineswegs zu scheuen gedenkt, hinweisen. 12

1) Vgl. meinen Aufsatz Clownerie statt Maskerade. Birgit Jürgenssens fotografische Arbeiten der 70er Jahre. In: Gabriele Schor (Hrsg.): Zusammengehalten durch Kunst - Held together with art. Museum für Angewandte Kunst Wien/Sammlung Verbund. Hatje Cantz Verlag 2007 (im Druck).
2) Zum Portraitieren als Trauerarbeit vgl. Nicola Suthors Kommentar zu Caius Plinius Secundus d. Ä.. In: Rudolf Preimesberger u.a. (Hrsg.): Porträt. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren. Berlin 1999, S. 117-126.
3) Vgl. Philippe Ariès: Bilder zur Geschichte des Todes. München/Wien 1984, S. 184-188. Zu Hans Baldung Griens Bildfindungen vgl: Joseph Leo Koerner: The Moment of Self-Portraiture in German Renaissance Art. Chicago/London 1993, v.a. Kap. 14. 
4) So die Zeilen von Matthias Claudius, deren Liedvertonung namensgebendes Thema des zweiten Satzes von Franz Schuberts Streichquartett Nr. 14/D 810 'Der Tod und das Mädchen' wurden.
5) Vgl. Hélène und Bertrand Utzinger: Itinéraires des Danses macabres. Editions J. M. Garnier 1996; vgl. die Homepage der Europäischen Totentanz-Vereinigung: http://www.totentanz-online.de/totentanz.htm
6) Vgl. Ausst.Kat. Birgit Jürgenssen. Früher oder später. Landesgalerie Oberösterreich (12. 2.-15. 3. 1998). Wien/Weitra 1998, S. 11 und: Gabriele Schor: Held together (Anm. 1).
7) Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 8. Hg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin/New York 1987, S. 1098-1099.
8) Birgit Jürgenssen im Gespräch mit Rainer Metzger: Kunstforum International. 146/2003, S. 243.
9) Elfriede Jelinek: Der Tod und das Mädchen I-V. Prinzessinendramen. Berlin 2003.
10) Ebenda, S. 34 und 28.
11) Jürgenssen: Früher oder später (Anm. 6), S. 11 und 13.
12)  Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hrsg. von Renate Lachmann. Frankfurt am Main 1995, S. 49-110 (Einleitung).

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