Peter Noever
Rede anläßlich der Verleihung des Birgit-Jürgenssen-Preises 2006 an Andreas Duscha
7. April 2006, Akademie für Bildende Kunst, Wien.

Birgit Jürgenssen.

Von Ihr gibt es zwei Selbstporträts. Das eine heißt "Ich möchte hier raus!" (ph17) (1976), das andere"Jeder hat seine eigene Ansicht" (ph16) (1975). Es ist bezeichnend, dass es sich in beiden Fällen um Selbstporträts handelt. Einmal ist sie im Habitus bürgerlicher Weiblichkeit gekleidet. Und in dem späteren Porträt sieht man sie in einer nackten Rückenansicht.

Der in Großbuchstaben geschriebene und an die Form von Schlagzeilen erinnernde Satz verbindet das linke Schulterblatt mit dem rechten und bezieht die Wirbelsäule als Symmetrieachse der Satzarchitektur mit ein. Die Wortfolge 'Jeder hat' ist durch die Bruchlinie der Wirbelsäule zäsurartig getrennt. Die Vertikalität einer natürlichen Architektur, welche die Wirbelsäule nun einmal darstellt, wird durch die Horizontalität des kulturellen Systems Schrift durchkreuzt. 
Natur und Kultur stehen hier also in einem latent inszenierten Konfliktverhältnis. Ich weiß nicht, ob man diesen Zusammenhang bisher schon benannt hat. Aber für mich ist die Verbindung dieser beiden Selbstporträts zu einem Diptychon ganz evident. mehr

Denn Jürgenssen formuliert und etabliert hier ein Oppositionsschema, das für die feministische Kritik ihrer Generation die strukturelle Grundlage war. 
Wir haben hier in beiden Fällen die binären Gegensätze von angezogen und ausgezogen, von zugewandt und abgewandt, von gestischer Expressivität und gestischer Neutralität. Und das bei einer konstanten Präsenz von Schrift. Diese Schrift, das Fundament aller Kultur und Tradition, ist aber von jeher patriarchal dominiert. Mit Schrift ist natürlich nicht nur materialisierte und also geschriebene Sprache, sondern auch die gesprochene gemeint.

In beiden Arbeiten, denen ich ohne zu zögern einen Manifestcharakter zuschreiben möchte, wird die Sprache als Medium des Urteils performativ. Man soll dem perspektivisch inszenierten Spiel von Innen- und Außenansicht nicht auf den Leim gehen, und etwa glauben, dass mit dem Wort 'Ich' in dem Satz 'Ich möchte hier raus!' das symbolische und also künstlerische oder - noch weniger - das reale Ich von Birgit Jürgenssen gemeint sein würde. Nein, die Tatsache, dass wir diesen Satz lesen können und sie nicht, weil er für sie spiegelverkehrt verschlüsselt bleibt, beweist schon unmissverständlich den von Außen verfügten Setzungs- und Urteilscharakter dieses Titels. Ist also nicht mehr als eine normative Identitätsschablone. In diesen Arbeiten wird nicht nur gegen den oft eindimensionalen Feminismus der 70er Jahre Position bezogen, sondern darüber hinaus auch noch die postfeministische Kritik am Feminismus vorweggenommen.

Die Tatsache, dass ich es nun bin, der hier die Laudatio hält, muß dabei in den Verständnis- und Diskussionshorizont dieses Diptychons einbezogen werden.
Zumindest wenn wir der ganzen Radikalität ihres Werkes, ihrem stillen Zorn über die scheinbar unabänderliche Macht der Verhältnisse gerecht werden und ihr Werk nicht auf halbem Wege halbherzig zurücklassen wollen. Jürgenssen hat es sich mit ihrer Kritik eben nicht einfach gemacht. Und das sollten auch wir nicht.
Sie war sich des Umstandes durchaus bewusst, dass auch eine Ansicht nicht im unbedingten, freien Raum entsteht - und sei es die eigene. 
Ihr Feminismus ist einer auf zweiter Stufe. Zu jener Zeit rollte der Mainstream-Feminismus der 70iger Jahre auf vorgezeichneten Bahnen. 
Die Frage genuin weiblicher Autorschaft war einem gesinnungsverbürgten Autopiloten anvertraut. In diesem Kontext brachte Jürgenssen den Mut auf, den Meta-Standpunkt einzunehmen. Sie ließ den inneren Widerspruch in der eigenen Ansicht zu. Um mit Nietzsche zu sprechen, den der Feminismus ja bekanntlich schon frühzeitig zärtlich umarmte: Man muß sich zuerst von den Ketten befreien und dann sich auch noch von dieser Befreiung von Ketten befreien. Oder: zuerst kommt das Frei-sein-von, dann das Frei- sein-zu. Genau in dieser Reihenfolge.

Diese Spannung ist in Jürgenssens Arbeiten permanent präsent. In Ihren Metamorphosen des Realen zum Surrealen, des Imaginären ins Symbolische und wieder zurück begegnen wir einer Grundhaltung, die das ins Funktionale gerutschte menschliche Leben zu sich zurückholen will.
Vielleicht war die Entfremdung doch nur ein Alptraum, den man bei einem kurzen Nickerchen hatte?

Jürgenssens immer gegenwärtiger Impuls gründet nicht nur in einem unbedingten Bekenntnis zur Kunst. Für sie bleibt der Kunst mehr, als bloß Medium einer letztlich heroischen Vergeblichkeit zu sein. In der Kunst ist nämlich der letzte noch verbliebene Raum zu finden, in dem sich - trotz der herrschenden Verhältnisse und aller Enttäuschungsanlässe - etwas für uns alle sehr wichtiges ereignen kann: die unabdingbare Liebe zum Leben. 
Diese Liebe pulsiert aus einer Sehnsucht nach dem ganz Anderen.

zum Anfang