Iris Strohner
Birgit Jürgenssen: Cyanotypien von 1988/89
www.hauptstadt.at. 19.01.2012.

Die Galerie Hubert Winter zeigt seit 2006 jährlich eine Auswahl aus dem heterogenen Gesamtwerk der 2003 im Alter von nur 54 Jahren verstorbenen Wiener Künstlerin Birgit Jürgenssen. Ihre bislang noch immer unterschätzte subtile Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper im weitesten Sinne fand Umsetzung in unterschiedlichsten künstlerischen Techniken wie Zeichnung, Fotografie, Installation, Objektkunst oder Performativem.

In den Fokus einer größeren Aufmerksamkeit sind lediglich einige wenige Arbeiten gelangt. Die fetischhaften, von surrealem Sprachwitz durchdrungenen Schuhobjekte wie „Zungenleckschuh" (s16) zählen dazu, und natürlich die „Hausfrauen-Küchenschürze" (ph1578), ein Herdobjekt, das die als Hausfrau gekleidete Künstlerin um den Leib gebunden trägt. Im offenen Backrohr liegt auf Geschlechtshöhe ein frisch gebackenes Brot... mehr

Jürgenssen gelingt es oft mit schlicht wirkenden Bildinhalten ein regelrechtes Diskursfeuerwerk zu zünden. Durch penible Inszenierung, bis ins kleinste Detail durchdachten Rollenspielen und Verwandlungen, umgesetzt in fotografischen Selbstporträts und Zeichnungen, durch die Wahl weiblich konnotierter Objekte, wird nicht nur einer feministischen Selbstermächtigung durch humorvolles Entlarven des repressiven Frauen-Bildes zugearbeitet. 
Im Hintergrund gibt es bereits immer schon ein Wort, eine Redewendung, deren konventionellen Sinn sie durch komplexe künstlerische Darstellungen soweit decodiert und der freien Assoziation preisgibt, dass die festgeschriebenen Identitätsmuster ins Schleudern geraten und als sprachliche Konstrukte offengelegt werden.

In der letztjährigen Retrospektive im Bank Austria Kunstforum wurde erstmals die beeindruckende stilistische Bandbreite von Jürgenssens künstlerischem Output gewürdigt. Die kleinen feinen Zusammenstellungen von Hubert Winter hingegen setzen auf Vertiefung der verschiedenen Aspekte ihres Werkscorpus. 
2012 konzentriert sich die Auswahl auf „Cyanotypien von 1988/89" der Künstlerin (sp64). Die Cyanotypie zählt zu den ältesten Kontaktkopierverfahren, dessen Blaustichigkeit, bedingt durch den Einsatz von Eisensalzen, und Unschärfe einen fast träumerischen Verfemdungseffekt erzeugen. Jürgenssens Experimentierfreude paart sich durch den Rückgriff auf diese veraltete Technik mit der Dringlichkeit, endlich Spuren weiblicher Kreativität aus dem männlich dominierten historischen Dickicht freizulegen. Denn die Biologin Anna Atkins ist nicht nur die erste Fotografin, sie hat auch als erste den Eisenblaudruck 1843 für ihre botanischen Bildbände angewendet.

Die Technik der Cyanotypie bietet Jürgenssen nun wieder ein weites Feld für Identitätsdekonstruktionen. Sie spielt nicht nur mit der symbolischen Kraft der „romantischen" Farbe Blau („Unendlichkeit der Seele"). Mit vielfachen Überblendungen verstärkt sie noch den Unschärfeeffekt, die Figuren nur mehr als Schemen erkennen lassen (sp5). Das Porträt vermag den Geist der Identität nicht mehr zu beschwören, verliert seine Konturen, seine Wiedererkennbarkeit und Erfassbarkeit. Identität mag den Marktwert steigern, ist aber letztendlich eine Illusion. Der Befund von Birgit Jürgenssen: „Die Identität der Frau ist zum Verschwinden gebracht, bis auf den fetischisierten Gegenstand, dem Fokus männlichen Wunschdenkens." 

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