Bettina, Birgit Jürgenssen, Nina Porter, Carol Rhodes, Hanna Stiegeler
Sweetwater, Berlin

8. November – 21. Dezember 2024

»There is no place like home«, heißt es (in Anspielung auf die dort noch ideal-intakte Welt des Heims in The Wizard of Oz) lapidar in David Lynchs TV-Serie Twin Peaks (1990/91), in der sich die amerikanische Kleinstadtidylle allmählich als Albtraum abgründiger, dunkel-sexueller Fantasien entpuppt und in ihrem innersten Kern – dem familiären Heim – zerbricht.

Das Unheimliche gerade dort zu verorten, wo es zunächst am wenigsten vermutet wird – nämlich in den eigenen vier Wänden – legt schon die etymologische Herkunft des Begriffs nahe: So steht das Wort ›heimlich‹ nicht nur für heimatlich, heimelig, zum Hause gehörig, nicht fremd oder vertraut, sondern auch für versteckt, verborgen gehalten oder geheim, was Freud zu dem Schluss führt, »dass das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt … Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt … Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.«
Durch diese semantische Subversion schlagen für stabil gehaltene Kategorien unvermittelt in ihr Gegenteil um – ›heimlich‹, das Vorstellungen eines vor der Außenwelt beschützten Bereichs heraufbeschwört, in dem das Unbekannte vor die Tür verbannt ist, geht nahtlos in den entgegengesetzten Sinn von bedrohlicher Fremdheit über, der in ›unheimlich‹ steckt. Das Heim wird zu jenem Ort, an dem das moderne Subjekt zu sich selbst findet, seine Subjektivität ausformt, aber auch auf seinen Abgrund stößt, das Vertraute, das plötzlich fremd erscheint, und das Andere, das nicht von Außen, sondern als Verdrängtes aus dem eigenen Inneren wiederkehrt. Das Interieur ist der Ort, an dem das Subjekt erlebt, »nicht Herr im eigenen Hause« zu sein, wie Birgit Jürgenssen in Anlehnung an Freuds berühmte Formel festhält. mehr

Mit ihrer umfangreichen Fotoserie der Interieurs, die zwischen 1996 und 1998 entsteht, greift Jürgenssen den Topos des Heims und die damit verbundene Ambivalenz von fremd/vertraut, heimlich/unheimlich ebenso wie von innen/ außen, privat/öffentlich auf. Als Ausgangsmaterial dient ihr ein Handbuch zur Innenausstattung aus dem Jahr 1976 – The Instant Decorator –, das die pauschalisierte Idealvorstellung der bürgerlichen Mittelklasse vom ›Schöner Wohnen‹ repräsentiert und mit Küche, Wohn-, Schlaf-, Bade- und Kinderzimmer all jene Innenräume beinhaltet, entlang derer sich der bürgerliche Haushalt typischerweise strukturiert. Die an die Werbeästhetik der 1960er-Jahre erinnernden Ensembles, die der Pop Art-Künstler Roy Lichtenstein als Grundlage seiner Interiors aufgriff, sind auf Transparentfolien gedruckt, die den Leser und die Leserin einladen, sein oder ihr Eigenheim ›individuell‹ zu gestalten, indem etwa unterschiedliche Farbmuster ausgetestet werden, frei nach dem Motto »beautify your home«, wie Jürgenssen in ihrem Notizbuch vermerkt. Ein solcherart heimgesuchter Individualismus kann sich offensichtlich weniger in der standardisierten Innenarchitektur manifestieren, sondern bleibt auf die Differenzierung von Dekorationsoberflächen beschränkt. In ihrer Fotoserie verfremdet die Künstlerin die Vorlagen, indem sie die transparenten Flächen mit vorgefundenem, die sterile häusliche Kulisse irritierenden Bildmaterial unterlegt und auf diese Weise verschiedene Ebenen von Realität und Zeit konfrontiert, die sie dann unter Zufügung inhaltlicher Ergänzungen – etwa durch weitere Schichten von Flächenformen, Zeichnungen oder Licht- und Schattenreflexen – mehrfach fotografiert und entwickelt.

„Wie erfährt man sich im Anderen, das Andere in sich?“. Aspekte des (Un)Heimlichen im Werk von Birgit Jürgenssen
von Heike Eipeldauer
Auszug aus: Ausst. Kat. Bank Austria Kunstforum, 2010/11, S. 35–36.

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