Eine Frauenquote in der Kunst hatte sie nie nötig
Als sich mit nacktem Fleisch noch provozieren ließ: In Wien sind Birgit Jürgenssens Körperbilder zu sehen.
Wien, Anfang Februar
Bekannt wurde Birgit Jürgenssen durch ihren Objektzyklus "Schuhwerk", in dem sie sich über mehrere Jahre hinweg mit der typisch weiblichen Fußbekleidung als fetisch erotischer wie sozialer Zuschreibungen auseinandersetzte. So entstanden ein fleischig rosafarbener "Schwangerer Schuh" (s7) mit einem Fötus auf der Kappe, ein "Netter Raubvogelschuh" (s9) aus schwarz schimmernden Federn mit einer Hühnerkralle als Absatz oder ein "Brotschuh" (s8) aus Leder, Brotkrumen und Speck. Ihr Konzept, Ideologie visuell dingfest zu machen und durch die überspitzte Sichtbarkeit zu entlarven, ging mit verblüffender Leichtigkeit und mit ansteckendem Witz auf. Aber da sie nicht ewig "Die mit den Schuhen" sein wollte, war damit 1976 nach einem Environment in der Nürnberger Kunsthalle endgültig Schluss.
Warum ihr der Erfolg zu Lebzeiten hartnäckig verwehrt blieb? Vielleicht, weil sie für die feministische Avantgarde, der Jürgenssen (1949 bis 2003) zugerechnet werden kann, mitunter zu selbstironisch und unorthodox gewesen sein mag, und für den herkömmlichen Kunstbetrieb zu feministisch und radikal. Deshalb ist es wirklich ein Glücksfall, dass ihr nun das Wiener Bank Austria Kunstforum in Kooperation mit der Sammlung Verbund postum eine erste Retrospektive gewidmet hat. Rund 250 Werke geben einen überwältigenden Eindruck vom abenteuerlichen Kosmos einer klugen zeitkritischen Diagnostikerin, die ihre prekäre Position als bildende Künstlerin zum Ausgangspunkt für ein ästhetisch-politisches Oeuvre wählte, dessen Originalität, Qualität und progressives Potential lange nicht anerkannt wurden. Der Bogen, den die schön und großzügig gestaltete Ausstellung schlägt, reicht von der Diplomarbeit "Ohne Titel (Zipfel)" (1971), in der sie unter anderem ein Häufchen verschiedenfarbiger, mit Kunstdünger behandelter Seidenstrümpfe wie abgeschnittene Penisse unter einer Art Käseglocke präsentierte, bis zu späten fotografischen Arbeiten. In der Wahl ihrer Ausdrucksmittel war Birgit Jürgenssen, die ihren Vornamen in der Schulzeit schon einmal mit "Bicasso" angab, stets außerordentlich variabel und experimentierfreudig: Zeichnungen, Objekte, Fotografien, Fotogramme, Druckgrafiken, Skulpturen, Videos, performative Körperkunst. Ihre Themen freilich hatte sie bald gefunden: Geschlechterzuordnungen, Rollenklischees, alle möglichen Gratwanderungen zwischen Polaritäten wie Mann und Frau, Liebe und Sexualität, Mensch und Tier, Mensch und Natur, außen und innen.
Mit respektlosem Galgenhumor und der Lust an der Demaskierung patriarchaler Herrschaftsverhältnisse nutzte sie die Wahrnehmungsstrategien des Feminismus, der Psychoanalyse und des Surrealismus, um Alltagsbeobachtungen, Erinnerungen, Sprachfetzen, zumal die "Missverständnisse des Alltags" zu verdichten und in diskursiven wie magischen Metamorphosen die Entität des menschlichen Körpers über die determinierenden Identitätsgrenzen hinaus zu erweitern.
Dazu zählt zum Beispiel die Fotografie "Ohne Titel (Selbst mit Fellchen)" (ph679) (1974/77), in der Birgit Jürgenssen über dem Gesicht ein Fuchsfell trägt, das mit ihrem Haar verschmilzt und ihre Augen lasziv-gefährlich ersetzt. Darunter ist ihr rot geschminkter, kokett gespitzter Mund zu sehen, der durch die abgesenkte Kameraperspektive den Eindruck von Verführung und Dominanz noch verstärkt. Der Körper ist in einem ornamental gemusterten Stoff gewickelt, was der absonderlichen Hybridgestalt einen unerwartet häuslichen Bezug verleiht. Wie sich hier Mensch und Tier ergänzen, auflösen und amüsant auf den Zusammenhang von Pelz, Frau, Sexualität verweisen, so andernorts Mensch und Objekt in dem Fotodiptychon "Hausfrauen-Küchenschürze" (ph1578) (1975), in dem die Künstlerin einen Herd mit zwei Kochplatten um den Hals trägt, aus dessen Backfach phallisch ein Brotlaib hervorragt.
Oft integrierte sie Schrift in ihre Arbeiten, ob sie im Stil einer Elfriede Jelinek Redensarten wörtlich nahm oder Worte durch den semantischen Fleischwolf trieb, wie in "Lieb, Beil, Lied, Leid" (z365) (um 1986) auf einer Kohle/Wachszeichnung. "Jeder hat seine eigene Ansicht" (ph16) steht auf einem weiblichen Rücken (1975), und "Ich möchte hier raus!" (ph17)(1976) auf einer Glastür, hinter der sich Jürgenssen als adrette Hausfrau mit verzweifelter Miene dem Betrachter zuwendet, in dessen Blickrichtung der Satz geschrieben ist. Neben dem witzigen Charme und der künstlerischen Souveränität ist es das, was die famose Wiener Ausstellung dem Werk Birgit Jürgenssens abschaut: die noble Aufforderung, sich ein eigenes Bild zu machen und unter dem Schein auch das nackte Sein und die ungeschützte Haut zu erkennen.