Birgit Jürgenssen und Cinzia Ruggeri: Zuhanden der Füße
Die Wiener Künstlerin und die italienische Designerin lernen sich in der Galerie Hubert Winter posthum kennen und entdecken allerlei Gemeinsamkeiten.
Diese Ausstellung hat nicht nur Hand und Fuß, nein, sondern außerdem jede Menge Accessoires, wo man beides reinstecken kann. Und sie hat noch viel mehr Körperteile in petto. Sogar eine echte Zunge. (Vom Rind allerdings.) Generell geht es hier sehr physisch zu, wie man es eben von Birgit Jürgenssen gewohnt ist, die 2003 mit gerade erst 54 verstorben ist und sich bereits als Achtjährige quasi in die Kunstgeschichte der Großen eingereiht hat, indem sie ihre Skizzen in einem Schulheft mit "BICASSO Jürgenssen" signiert hat. (Als Kind wurde sie "Bi" gerufen. Ist kürzer als Birgit.)
Und regelmäßig beweist ihr Nachlassverwalter, der Hubert Winter, in seiner Galerie, wie unverstaubt frisch das ansehnliche Oeuvre der experimentierfreudigen Künstlerin nach wie vor ist, das unverkennbar vom Feminismus und Surrealismus beeinflusst ist und lauter Beziehungsgeschichten erzählt: zwischen Mensch und Tier (und dem REST der Natur), zwischen Mann und Frau, den Geschlechtern und ihren Rollenklischees, der Biologie und dem Sozialen. (Sind Themen wie Gender und der Umgang mit der Umwelt nicht eh grad wieder höchst aktuell?) mehr
Der mit der Banane und die mit den Schuhen
Diesmal wurden vier zusätzliche Augen eingeladen, nämlich jene von Maurizio Cattelan und der Kuratorin Marta Papini, um einen unverbrauchten Blick auf die hervorragende Zeichnerin, die ohne Scheu Neues ausprobierende Fotografin und die Erzeugerin skurriler, oft verstörender Objekte zu werfen.
Cattelan, ist das der . . .? Ja, genau. Der mit der Banane. Der 2019 auf der Art Basel in Miami, der letzten vor Corona, eine leibhaftige Scherzfrage mit Klebeband fixiert hat: Was pickt an der Wand, ist gelb und krümmt sich vor Lachen? Ausnahmsweise also reales, voll funktionsfähiges, sprich essbares Obst und kein gefälschtes, imitiertes, keine seiner hyperrealistischen Skulpturen wie die von Papst Johannes Paul II., der geradezu live im Fernsehen gelitten hat und den er von seinem Siechtum erlöst, ihn mit einem Meteoriten erschlagen hat. Und Adolf Hitler hat der Italiener mit dem provokanten Humor hinknien lassen und . . . in einem Gebet versenkt. (Gut, seine Klomuschel "America" aus 18-karätigem Gold hat auch funktioniert. Heute tut sie das möglicherweise nimmer. Hängt davon ab, ob die Diebe sie eingeschmolzen haben.)
Und die Birgit Jürgenssen? Ist jetzt zu zweit. Mit Cinzia Ruggeri (1945 – 2019), einer italienischen Mode- und Möbeldesignerin, die sich auf ihre Weise mit dem Körper auseinandergesetzt hat und deren entgrenzte Kreationen (bekannt ist sie für ihre "behavioristischen Kleidungsstücke") sich nicht entscheiden wollen, ob sie Gewand sind oder Kunst zum Anziehen, Möbel oder ästhetisches Objekt. (Die Fashion-Shows waren ohnedies theatralische Happenings.)
Herausgekommen ist nun ein anregender Dialog, der überraschende Gemeinsamkeiten zutage fördert (bis hin zur Verwechslungsgefahr da und dort). Zwei, die sozusagen ständig die Grenzflüsse zwischen den Disziplinen überbrückt haben (um im Bild des Titels der Schau zu bleiben, der da lautet: "Einsam sind alle Brücken", ein Zitat von Ingeborg Bachmann) und die sich zu Lebzeiten nie begegnet sind, treffen sich endlich posthum. Man macht es überhaupt spannend, enthüllt nicht alles sofort, unterteilt den langgestreckten Hauptraum in drei intimere Abschnitte, schiebt den Besuchern Reproduktionen von Zeichnungen von Birgit Jürgenssen als Trennwände vor die Nase.
Nur mit Licht und Schatten bekleidet
Begrüßt wird man gleich einmal von der riesigen Hand der ITALIENERIN, die einen zu einem High-Five herausfordert. Ein regelrechter Superreiz, dem man kaum widerstehen kann. Immerhin ist die Hand mit schwarzem Samt überzogen. (Und wenn ich mir nachher mein Grapsch-Organ desinfiziere?) Als Echo antworten ihr die unheimlichen Schatten-"Fingerlinge" der WIENERIN. Fotos. Und zum gezeichneten Selbstbildnis mit Ratte auf dem Kopf von Letzterer gesellt sich eine Assemblage der anderen. Ebenfalls so etwas wie ein Porträt mit Ratte. Oder VON einer Ratte. Von Rémy, dem kochenden Nager aus dem Animationsfilm "Ratatouille". Chefhaube, weiße Handschuhe, eine Fasanfeder (weshalb eine Fasanfeder?) und ein vergoldeter Hühnerknochen.
Alles korrespondiert subtil miteinander: der grüne Tüll- und Seidenhauch von Kleid mit der tapezierten Wendeltreppe dahinter (beides mit "Stufenschnitt"), während Jürgenssen, die an der Akademie der bildenden Künste in Wien übrigens die Fotoklasse aufgebaut und dann das Fach Medien unterrichtet hat, ihre Nacktheit mit Licht und Schatten bekleidet, mit dem Diaprojektor Zeichnungen draufwirft (ein aufgeschlagenes Buch mit der Dichotomie "Love" und "Hate" etwa) oder einen Sternenhimmel und diese ephemeren "Körperprojektionen" fotografisch dokumentiert. Nicht, dass sie sich nicht auch was Handfesteres auf den Leib geschneidert hätte, die Birgit Jürgenssen. Ihre legendäre "Hausfrauen-Küchenschürze" von 1975, ein Herd zum Umbinden (inklusive "Braten in der Röhre"), tragikomische Ikone der feministischen Kunst, ist lediglich nicht ausgestellt.
Sind Pumps nicht sowieso gefräßige Raubvögel?
Dafür bügelt ihr visionäres Heimchen am BÜGELBRETT mit subversiver Ironie (und dem Bügeleisen logischerweise) den Anzug des Ehemannes mitsamt Inhalt. Mitsamt Mann. Die Feinheit des Strichs verbindet sich mit bösem Witz. Und ihr "Schuh-Werk" aus den 1970ern ist da. Prädikat: besonders animalisch. Einen Vogel hat sie zu einem Pumps gezähmt, zu einem "Netten Raubvogelschuh" mit Hühnerkralle als Absatz. Ein Schnabelschuh, der den Namen verdient.
Einen Pantoffel aus einem Hundekiefer wiederum hat sie mit ihrem eigenen Fleisch gefüttert, jedenfalls erinnert er sich an sie, hat ihr Fuß einen deutlichen Abdruck hinterlassen. (Eine Mahnung an die Vergänglichkeit? Und die bewegt sich manchmal offenbar per pedes fort?) Und ihren "Zungenleckschuh" lässt sie von einer Kuh abschlecken, bzw. zwängt sich die ganze präparierte Zunge in die Sandalette. Fetische jenseits der Aschenputtel-Romantik. Zwischen Erotik, Ekel und Vanitas. Und wenn sie eine "brave" Sandale einem menschlichen Gesicht anpasst, mutiert diese zu einer strengen Sadomaso-Maske.
Schuhe, diese fußbetriebenen Fortbewegungsmittel, hat Jürgenssen halt ausgiebig als Transportmittel genutzt. Für ihre künstlerische Aussage. Und irgendwann hatte sie den Ruf, "die mit den Schuhen" zu sein. Ruggeris Fetische sind vergleichsweise diskret. Ihre – tragbaren und tatsächlich getragenen – "Scarpe Scale" (Treppenschuhe, wegen der gestuften Ränder) enthalten zwar genauso tierische Produkte, das Leder ist freilich in einen zarten HUMANEN Hautton umgefärbt worden und stöckelt mit seiner noblen Blässe unscheinbar eine Galeriewand empor.
Die Handtasche als Selbstverteidigungswaffe
Okay, ein anderer Hybrid ist blutrot. Aber mit seinen 20 Zentimetern Durchmesser ist er andererseits extrem . . . handlich. No na, schließlich ist das ein Handtascherl mit praktischer manuell zu bedienender Selbstverteidigungsfunktion, eine Ohrfeigenhandtasche ("Guanto-borsa sciaffo", 1983). Defensivwaffe und Clutch in einem. Und je nachdem, was man vorher in die Tasche gestopft hat, ist die Watsche entsprechend effektiv bis hin zur Überschreitung der Notwehr. Dagegen ist der klingende Handschuh ("Guanto Sonoro") von 1986 ein Pazifist. Obwohl Musikinstrumente durchaus martialisch sein können, kommt dieses mit seinen klappernden Stäbchen, die keine spitzen Krallen sind, vermutlich in Frieden. (Mit "Prothesen" und anatomischen Erweiterungen haben sich ja BEIDE Künstlerinnen gespielt.)
Eine Nackte wird zur Batwoman, baumelt wie eine Fledermaus kopfüber von einem Ast, eine weitere identifiziert sich in einer anderen Buntstiftzeichnung mit der berühmten Löwin Elsa, deren Leben in drei Büchern dokumentiert und von der BBC verfilmt worden ist, bekommt deren Fell und die Raubkatze im Gegenzug einen rosigen Teint: Mischwesen, Metamorphosen, Wort-Chimären und –spiele haben Jürgenssen sowieso immer fasziniert.
Ob sie selber denn eine "Femischistin" sei, ein Hybrid aus Feministin und Fetischistin, wird sie von Maurizio Cattelan nach ihrem Tod in einem Interview gefragt. Nein, er hat keine Séance abgehalten, bloß neue Fragen zu alten Äußerungen der Künstlerin formuliert. Und ja, sie, die mit vollem Körpereinsatz eine Frau war (einmal hat sie das Wort "FRAU" in Blockbuchstaben pantomimisch dargestellt, ein andermal einen Bizeps mit Brustwarze anschwellen lassen), WAR eine, eine "Femischistin". Abschließend wollte Cattelan noch von ihr wissen: "Warum sind Sie schon gestorben?" Antwort: "Weil weniger mehr ist."
Darf man sich auf einen fremden Schatten setzen?
Und der weibliche Schatten, der sich imposant als samtige Chaiselongue materialisiert? Ein ambivalentes Möbelstück von Ruggeri. Modell "Colombra" (aus "colomba": Taube, und "ombra": Schatten). Eine gefesselte Frau, deren Hände zugleich eine Taube formen. Derweil "schummelt" sich in Jürgenssens surreale Schuhphantasien ("Fabriksschuh": Chelsea-Boot im Ziegellook mit rauchendem Schlot) auch eine von Cinzia Ruggeri hinein, tarnt sich perfekt: Stöckel mit sexy Reizwäsche, mit Spitze drumherum.
Und aus dem Rahmen des Bildes hängt ein Nylonstrumpf in die Realität rein, leitet über zu einem leider Fiktion gebliebenen Projekt für die Firma Wolford. Originelle Motivstrumpfhosen (Blitze, Rinde, Eisblumen oder eine kreative Variante der Netzstrümpfe: mit Spinnennetzmuster), in denen sich Naturverbundenheit und die "Body Projections" zur Konfektionsmode demokratisieren. Zum modischen Statement. Eine wirklich gelungene Doppelausstellung. Absolut empfehlenswert. Und sie macht keine Sommerpause.