Martin Büsser
Den Herd am Leib
In: Jungle World Nr. 5, 4. Februar 2010.

Die frühverstorbene Fotografin und Künstlerin Birgit Jürgenssen zählt zu den herausragenden Vertreterinnen der feministischen Avantgarde. Eine Monografie stellt ihr Werk vor.

Auf einer Fotografie von 1976 presst eine Frau Gesicht und Hände gegen eine Glasscheibe, auf der steht: »Ich möchte hier raus!« (ph17). Das Bild erhielt bereits 2008 in der Münchener Ausstellung »Female Trouble« sehr viel Aufmerksamkeit. Zwischen kanonisierten und zum Teil hinlänglich bekannten Exponaten, etwa von Cindy Sherman und Valie Export, wirkte diese Arbeit überraschend und ungewöhnlich. Hier ist Feminismus in der Kunst auf den Punkt gebracht worden, präzise, aber dennoch nicht platt, sondern mit einer feinen Spur bitteren Humors durchsetzt. Doch wer ist die Künstlerin? Birgit Jürgenssen, hier wie in fast all ihren fotografischen Arbeiten in einem Selbstporträt zu sehen, war vielen Besuchern der Münchener Ausstellung unbekannt. Und dies, obwohl es sich um eine der wichtigsten feministischen Künstlerinnen des vergangenen Jahrhunderts handelt. mehr

»Birgit Jürgenssen ist das missing link, das endlich entdeckt wird«, erklärt Peter Weibel, »für die Geschichte nicht nur des österreichischen Feminismus zwischen Maria Lassnig und Valie Export, sondern auch für die internationale Bewegung der Frauenkunst von Francesca Woodman bis Cindy Sherman.« So steht es im gerade erschienenen Katalog, der ersten Monografie zu Birgit Jürgenssen überhaupt. Bei Maria Lassnig war sie Assistentin (1980/81), mit Valie Export war sie befreundet. Warum sie dennoch bis heute weitgehend unbekannt ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Vielleicht liegt es daran, dass sie nie als provokante Performance-Künstlerin aufgetreten ist, sondern sich in vergleichsweise verhaltenen Arbeiten ausdrückte, bevorzugt in Zeichnungen, Fotografien oder kleineren Objekten. Für Spektakel hatte sie wenig übrig.
Aus Schüchternheit, so erklärte sie in einem Interview, habe sie den eigenen Körper nie in öffentlichen Performances den Blicken des Publikums ausgesetzt. Das unterscheidet sie nicht nur von Künstlerinnen wie Yoko Ono oder Annie Sprinkle, sondern auch von den meisten männlichen Kollegen, vor allem von den Wiener Aktionisten. Deren selbstherrlicher, oft machohafter Umgang mit dem eigenen Körper ist von Jürgenssen geradezu demontiert worden. Begierde und Angst, das wusste sie, sind jedem Körper eingeschrieben. Doch feministische Kunst funktionierte ihrer Ansicht nach anders als die »Befreiungsrituale« von Hermann Nitsch und Otto Mühl: Während die Männer selbstbewusst Schichten des Unbewussten aufdeckten und so ihre eigene Lust auslebten, musste die Frau sich erst einmal der Tatsache vergewissern, nicht Subjekt, sondern Objekt der Begierde zu sein, von Männern und dem männlichen Blick fremdbestimmt. 
Eine Fotoarbeit von 1972 zeigt Jürgenssen in vier Posen, den Körper so gekrümmt, dass er jeweils den Buchstaben F, R, A und U bildet - Frau (ph1037). Die Buchstaben formen den Körper, definieren ihn und deformieren ihn zugleich. Weiblichkeit wird hier entgegen essentialistischer Ansätze, die es im Feminismus der siebziger Jahre auch gegeben hat, als Konstrukt dargestellt, dem sich der Körper bereits völlig unterworfen hat. Ähnlich ließe sich »Ich möchte hier raus!« (ph17) deuten, eine Fotografie, die Jürgenssen in einem altmodischen Rüschenhemd zeigt: Die Künstlerin will raus aus dem weiblichen Körper, weil dieser Körper nicht ihr eigener ist, sondern die Projektionsfläche männlicher Vorstellung von Weiblichkeit. Um Subjekt werden zu können, muss zunächst das Objekt Frau abgestreift werden. Aber geht das überhaupt? Kann es im Patriarchat eine zuschreibungsfreie weibliche Subjektivität geben? In ihrem hervorragenden Katalogtext »Selbstironie als autobiografische Strategie« macht Elisabeth Bronfen deutlich, dass Jürgenssen dezidiert die Vorstellung in Frage stellte, »es gäbe einen direkten, ungetrübten Blick auf das Selbst, welches sich aus dem komplexen Spiel der Fremdwahrnehmungen und Übertragungen loslösen könnte«. Genau das macht ihre Arbeiten ebenso bitter wie ironisch, jedoch nicht fatalistisch. Parallel zu den in den Siebzigern entstehenden Gender Studies zeigt Jürgenssen in ihren Arbeiten auf, dass Geschlecht nicht etwas Gegebenes, sondern etwas Gemachtes ist.
Die 2003 verstorbene Künstlerin hatte sich schon früh mit der von Männern beherrschten Moderne beschäftigt. Bereits als achtjähriges Mädchen hatte sie sich die Arbeiten eines der größten Machos der Kunstgeschichte angeeignet, im wahrsten Sinne einverleibt: In einem Schulheft »kopierte« sie Bilder von Picasso und signierte sie mit »Bicasso Jürgenssen«. Dem Kind mag noch nicht bewusst gewesen sein, dass es sich dabei um eine feministische Selbstaneignung handelte, doch später taucht diese Auseinandersetzung mit dem vermeintlich starken Geschlecht immer wieder in Jürgenssens Arbeiten auf. Männliche Attribute der Stärke werden von ihr häufig weiblich umcodiert, etwa in der Zeichnung »Emanzipation« (z109) von 1973, wo ein angespannter Bizeps durch eine weibliche Brust ersetzt worden ist. Dabei ging es Jürgenssen nicht darum, eine weibliche Form von Virilität zu fordern, sondern die Virilität an sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Warum nicht auch den Mann in all seinen Posen als Objekt seines eigenen Wahns von Stärke und Überlegenheit bloßstellen?
In den Siebzigern, dem Höhepunkt der »First-Wave«-Frauenbewegung, war es jedoch erst einmal wichtiger, die soziale Unterdrückung der Frau aufzuzeigen. 1975 kam »Jeanne Dielman, 23, Quai Du Commerce, 1080 Bruxelles« in die Kinos, ein Film der belgischen Regisseurin Chantal Akermann, der zermürbende dreieinhalb Stunden lang den Alltag einer Hausfrau zeigt, die in ihrer Wohnung zugleich auch der Prostitution nachgeht. Zwischen dem Besuch der Freier sieht man sie beim Staubwischen, Kochen, Saugen, Backen und Einkaufen von Lebensmitteln - ohne Schnitte, ohne Kamerafahrten. Die Lebensumstände der Hausfrau selbst, macht der Film deutlich, sind bereits Prostitution, was vom Besuch der Freier lediglich untermauert wird. Eine ähnliche Analogie zog Birgit Jürgenssen 1975, als sie sich in ihrer »Hausfrauen-Küchenschürze« (ph1578) fotografierte. Auf dem Foto ist zu sehen, wie sie den Herd als Küchenschürze als ständige Last vor sich herträgt, auf der Höhe ihres Geschlechts ist die Backofentür geöffnet. Ein Brot ragt heraus, das nur unschwer als Phallus erkennbar ist. Aufs Kochen und den Geschlechtsakt reduziert, wird diese monströse Schürze zu einer Art mittelalterlichem Pranger, der bloßstellt, wie sich die Frau prostituiert - und dies als Hausfrau sogar unentgeltlich. Gabriele Schor zitiert im Katalog aus einer Frauenzeitschrift von 1955, um zu verdeutlichen, wie stark das Bild weiblicher Unterwürfigkeit gegenüber dem Ehegatten auch noch die Generation von Birgit Jürgenssen geprägt hat: »Zweifeln Sie nicht am Urteilsvermögen Ihres Mannes. Er ist der Hausherr. Sie haben kein Recht, ihn in Frage zu stellen.«

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welch exotische Sonderstellung Künstlerinnen auch noch in den siebziger Jahren einnahmen. So sagte beispielsweise ein Assistent der Wiener Hochschule für Angewandte Kunst: »Ach, Fräulein Jürgenssen, warum schleppen Sie sich denn mit den schweren Lithosteinen ab, Sie werden doch eh bald heiraten.« Im April 1974 schrieb Jürgenssen an den DuMont-Verlag, er möge doch endlich einmal eine Anthologie über zeitgenössische Künstlerinnen veröffentlichen: »Zu oft ist die Frau Kunstobjekt, selten und ungern lässt man sie selbst zu Wort und Bild kommen.« Doch die Zeit war noch nicht reif. Und so blieb Birgit Jürgenssen nur eines: mit ihrem Werk aufzuzeigen, wie die Frau in der Gesellschaft gesichtslos gemacht wird, ausradiert, als Künstlerin wie als Mensch.
So zumindest lautet die These von Gabriele Schor, die in ihrem Katalogessay »Ich bin« der Frage nachgeht, warum das Gesicht der Künstlerin im Laufe der Jahre immer mehr aus ihren Arbeiten verschwindet, von Schatten oder Masken überlagert wird. Auf einem Foto von 1975 ist nur noch der Rücken der Künstlerin zu sehen, mit Lippenstift geschrieben steht dort: »Jeder hat seine eigene Ansicht« (ph16). Jürgenssen selbst redet von Verweigerung: »Die Identität der Frau ist zum Verschwinden gebracht, bis auf den fetischisierten Gegenstand, dem Fokus männlichen Wunschdenkens.« Auf »Ich möchte hier raus!« (ph17) von 1976 war Jürgenssen noch frontal zu sehen, auf einer späten Arbeit von 1995 hingegen ist sie völlig verschwunden. Zu sehen ist nur noch eine kleine Schultafel, auf der die Worte »Ich bin« (s46) geschrieben stehen. Daneben hängt ein Schwamm. Die Worte können jederzeit weggewischt werden, weibliche Identität stellt sich als äußerst fragil heraus.
Die hier vorgestellten Beispiele können den Eindruck entstehen lassen, dass Jürgenssen eine sehr einfache, direkte feministische Kunst geschaffen hat, deren Kritik am Patriarchat sofort erkennbar ist. Tatsächlich mochte Birgit Jürgenssen einfache, aber wirksame Wortspiele. »Spitzenfrau« (z103) von 1976 zeigt beispielsweise das Bild einer Frau, die sich über eine Spitzendecke beugt. Mit »Spitzenfrau« ist also keine klasse Frau gemeint, sondern eine, die ganz in weiblichen Klischees aufgeht. »Spitze« findet so etwas vor allem der Mann. Doch es wäre zu einfach, Jürgenssen nur als künstlerische Vertreterin eines deutlichen, im Rahmen der Siebziger zum Teil auch didaktischen Feminismus zu betrachten. Auf die Frage, ob sie eine feministische Künstlerin sei, antwortete Jürgenssen differenziert: »Im Sinne der Bewusstwerdung, Analyse und Dekonstruktion von herrschenden Theorien und Repräsentationssystemen - ja.« Jürgenssen war allerdings auch mit den Schriften poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Philosophie vertraut. Ihr ging es nie darum, nur zu einer eigenen, »weiblichen Identität« vorzudringen und so vom Objekt zum weiblichen Subjekt zu werden, sondern vielmehr darum, Identitätskonstrukte an sich zu überwinden. Dass das »Ich bin« auf der Tafel jederzeit weggewischt werden kann, lässt sich auch positiv sehen, nämlich als Möglichkeit der Wandelbarkeit, als Freiheit, sich ständig neu überschreiben zu können. Gabriele Schor nennt das in ihrem Katalogbeitrag »Identitäten im Übergang«. Doch diese Freiheit wird nur dort gewährt, wo Geschlecht als identitäre Zuschreibung nicht mehr bindet. In diesem Zusammenhang stellt sich allemal die Frage, warum all die forschen Subjekt-Zertrümmerer, von Foucault bis Deleuze, ausschließlich Männer gewesen sind.
Mit der nun vorliegenden Monografie lässt sich eine Künstlerin entdecken, die es trotz eindeutiger Linie weder sich noch ihren Betrachtern je einfach gemacht hat. Künstlerinnen wie sie haben in den Siebzigern erst den Weg für eine kommende selbstbewusste Generation so genannter Postfeministinnen wie Tracey Emin oder Sarah Lucas geebnet. Rückblickend lässt sich feststellen, dass manche der jüngeren Kolleginnen zwar formal radikaler sein mögen, inhaltlich aber kaum mehr an das heranreichen, was man im Fall von Birgit Jürgenssen als Dringlichkeit bezeichnen könnte.

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