Birgit Jürgenssen
Über Schuhe
In: Das Pult, 44, 1977, S. 77.

Schuhe haben mich immer schon ein wenig fasziniert, und nicht nur weil sie ein kleines handwerkliches Kunstwerk sein können, sondern auch aus diversen anderen Gründen. Bestimmte Schuhe aus meiner Kindheit (z. B. rote Stiefel mit applizierten weißen Katzen; mausgraue Wildlederpumps) sind mir im Zusammenhang mit besonderen Erlebnissen und Gefühlen noch ganz genau in Erinnerung. So wurde der Schuh im Lauf der Zeit (meiner Entwicklung) als rein persönlicher Gegenstand und mit seiner Bedeutung und Notwendigkeit für jeden Menschen so interessant und wichtig für mich, daß es Wert war, zu diesem Thema Zeichnungen zu machen und sich intensiver damit zu befassen. Schließlich steigerte ich mich in diese Aufgabe derart hinein, daß das Zeichenblatt allein nicht genügte und ich zusammen mit einer alten Schusterin tragbare Schuhmodelle haargenau nach meinen Zeichnungen anzufertigen begann. Auf die Dauer (nach 3 Modellen) war das aber finanziell nicht tragbar, und ich arbeitete allein weiter unter Verwendung diverser Materialien (Seidenstrümpfe, Organza, Schaumgummi, Kunstdünger, Blätter) und entwickelte immer mehr Schuhpaare, die ihrem ursprünglichen Verwendungszweck nicht mehr entsprachen. Nicht mehr der Schuh als solcher war mir wichtig, sondern der Schuh als ein Objekt, das in der Art seiner Wahl und Benutzung Rückschlüsse auf Lebenshaltung, -einstellung, -standard, auch auf Charakter seines Trägers schließen ließ. Alle diese Beobachtungen waren für mich fast wie Handlesen: ob jemand seine Schuhe pflegte, wie seine Absätze vertreten waren, ob er beim Gehen laute Geräusche machte, ob er schlurfte oder stolzierte, trippelte oder trottete... usw. mehr

Birgit Jürgenssen, 1977

 

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