Jasper Sharp
The Shape of Time
Austellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien, Verlag der Buchhandlung Walther König, Wien, 2018, S.42
Birgit Jürgenssen. Ohne Titel, 1991

Correggios zutiefst sinnliche Darstellung  von Jupiter und Io ist von Ovids epischem Gedicht Metamorphosen inspiriert. Jupiter, der König der Götter, hat einen unstillbaren sexuellen Appetit und nimmt, um seine Identität zu verbergen, immer wieder eine andere Gestalt an, so etwa die eines Schwans (um sich Leda zu nähern), eines Adlers (um Ganymed zu entführen) oder eines Goldregens (um Danaë zu verführen). Er wird der jungen Nymphe Io zum ersten Mal ansichtig, als diese vom Fluss ihres Vaters zurückkehrt. Er nähert sich ihr in seiner eigenen Gestalt und will sie in den Wald locken. Sie flieht und Jupiter stürzt sich in eine dunkle Wolke gehüllt herab, um sie zu verführen. Von seinen vagen, nebelförmigen Klauen umklammert, gibt Io mit halbgeschlossenen Augen und halboffenem Mund Jupiters Annäherungsversuchen nach. Coreggios Jupiter und Io, ein Meisterwerk der italienischen Hochrenaisannce, grhötz zu einer Gruppe von vier Gemälden, die Frederiko II. Gonzaga, der Herzog von Mantua, für einen Prunkraum im Palazzo del Te in Auftrag gab. mehr

Coreggios Jupiter und Io war eines von Birgit Jürgenssens Lieblingsbildern der Sammlungen des Kunsthistorischen Museums. Das unbetitelte Werk der österreichischen Künstlerin, das mehr als 400 Jahre später entstand und jetzt daneben hängt, greift ebenfalls auf  eine Geschichte in Ovids Metamorphosen zurück. Pygmalion, ein Bildhauer, verliebt sich in eine Elfenbeinstatue, die er geschaffen und der er den Namen Galatea gegeben hat. Die Göttin Aphrodite erhört sein Flehen und lässt die Statue lebendig werden. Die Geschichte liefert die Grundlage für George Bernard Shawas Schauspiel Pygmalion, das später verfilmt und zu dem Musical My Fair Lady verarbeitet wurde. Sie inspirierte auch bildende Künstler quer durch die Jahrhunderte und wurde zum Thema gemalter wie bildhauerischer Versionen des französischen akademischen Künstlers Jean-Léon Gérôme. Eine davon – um 1890 entstanden und heute im Besitz des Metropolitan Museum of Art in New York- baut Jürgenssen in ihre Arbeit ein. Ohne Titel gehört zu einer Gruppe großformatiger Fotoarbeiten, bei denen mehrere bedruckte Tafeln von einem Metallrahmen zusammengehalten und von einem dünnen Gazeschleier bedeckt werden. Der Stoff verbindet die einzelnen Tafeln nicht nur zu einem einzigen Tableau, sondern verleiht den Bildern auch eine sinnliche, beinahe skulpturale Qualität. Dieses Gefühl des Übergangs, des Schwankens zwischen zwei Zuständen, wird durch die schaukelnden Lichter auf der Tafel unten in der Mitte noch verstärkt. Pygmalions Statue gleich erwacht die Arbeit zum Leben.

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