Petra Noll-Hammerstiel
Entzauberte Globalisierung. Alternative Visionen des Polykulturellen
Kunstforum International 269 (Aug–Sep 2020), p. 307–309

Nach einer Corona-bedingten Verzögerung wurde Ende Mai die neue Dependance der Wiener ALBERTINA, die ALBERTINA modern, mit ca. 2.000 qm Ausstellungsfläche im Erd- und Untergeschoss des Künstlerhauses am Karlplatz geöffnet. Die „Hausherrin“, die Gesellschaft bildender Künstlerinnen und Künstler Österreichs, bespielt nun das Obergeschoss. Der Unternehmer und Kunstmäzen Hans Peter Ha^übernommen und renovieren lassen. Die Arbeiten für die Ausstellungen kommen von der ALBERTINA mit Direktor Klaus Albrecht Schröder und der ehemaligen Sammlung Essl (Museum Essl, Klosterneuburg), die Haselsteiner 2014 von dem Ehepaar Karlheinz und Agnes Essl zu sechzig Prozent erworben hatte und der ALBERTINA bis mindestens 2044 zur Verfügung stellt. Der Restbestand der Essl-Sammlung wurde der ALBERTINA geschenkt.

Aus dem großen Konvolut, ergänzt mit vielen Leihgaben, wurde nun die erste, von einem opulenten Katalog begleitete Ausstellung „The Beginning. Kunst in Österreich 1945 bis 1980“ zusammengestellt, ein Überblick über die künstlerischen Avantgarden dieser Zeit, der mit dem Beginn der Postmoderne endet. In der didaktisch konzipierten, breit angelegten Schau, kuratiert von Schröder und einem KuratorInnenteam, wechseln farbig gestaltete Räume für die einzelnen Kunstrichtungen mit solchen für international wichtige EinzelgängerInnen wie Maria Lassnig, Arnulf Rainer, Friedensreich Hundertwasser und VALIE EXPORT ab. Zu sehen sind, teilweise sehr dicht platziert, ca. 360 Exponate – (viel) Malerei, Skulptur, Objekt, Zeichnung, Druckgrafik, Fotografie und Film. Es stellen 74, um die 1930er-Jahre geborene KünstlerInnen aus, davon ca. 20 Frauen. mehr

Die Ausstellung versteht sich als Überblick, aber auch als Neubewertung der Situation der Kunst in Österreich nach dem II. Weltkrieg, nach den schweren Jahren der Brandmarkung „entartet“. Es sollten vor allem die heute als radikale Neuerer und international signifikant rezipierten KünstlerInnen ausgestellt werden, sozusagen der Kanon der großen ÖsterreicherInnen mit einigen selten gezeigten und oftmals frühen Arbeiten. Aber es wurde auch unbekannteren oder wiederentdeckten KünstlerInnen Raum gegeben, wie u. a. Renate Bertlmann, die 2019 den Österreich-Pavillon der Biennale Venedig bespielte, mit Arbeiten aus den 1970er-Jahren.

Die Werke in der Ausstellung zeigen, dass es nach 1945 trotz einer reaktionären offiziellen Kunstauffassung, einem nur langsamen Anschluss an die internationale Szene, einer Konzentration des relevanten Kunstgeschehens auf (den 1. Bezirk in) Wien und einer nur zögerlichen Aufarbeitung der Rolle Österreichs im Nationalsozialismus dennoch schon früh kritische Positionen in fast allen Stilrichtungen gab. Den Anfang machte die „Wiener Schule des Phantastischen Realismus“ mit u. a. Arik Brauer, Ernst Fuchs, Rudolf Hausner, Wolfgang Hutter und Anton Lehmden. Schon seit der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre entwickelten sie eine eigenständige österreichische Ausrichtung des Surrealismus, in der weniger das Unbewusste als realitätsbezogene Themen wie Krieg und die Conditio humana eine Rolle spielten. Parallel gab es einen Kritischen Realismus mit Georg Eisler, Alfred Hrdlicka, Florentina Pakosta, Reimo Wukounig oder auch Gottfried Helnwein, der in den 1970er-Jahre mit hyperrealistischen Schockbildern Gewalt an Kindern thematisierte, u. a. deren Ermordung in der „Euthanesieklinik“ Spiegelgrund in Wien.

Den expressiv Abstrakten, einer bis heute in Österreich stark favorisierten Richtung mit u. a. Wolfgang Hollegha, Josef Mikl, Markus Prachensky, Hans Staudacher und Max Weiler, ging es nach 1945 – ähnlich wie international – vor allem um eine Distanzierung von faschistisch-ideologischer Figuration, um Freiheit und Autonomie. Im Gegensatz dazu wurden die geometrische Abstraktion, Op Art und kinetische Kunst mit u. a. Marc Adrian, Roland Goeschl, Cornelius Kolig, Richard Kriesche oder Helga Philipp im „barocken“ Österreich längere Zeit weniger beachtet.

Der Wiener Aktionismus ist diejenige Kunstrichtung in Österreich, die am radikalsten künstlerische und gesellschaftliche Tabus überschritten hat. Anfangs heftig angegriffen, werden die provokanten, fotografisch und filmisch dokumentierten Körperaktionen und Aktionsmalereien der Protagonisten Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler heute – nicht nur in der Ausstellung – als eine der bedeutendsten Artikulationen österreichischer Kunst rezipiert. Hier schließen die Feministinnen mit vor allem Fotografien und Objekten an, wie u. a. Renate Bertlmann, Birgit Jürgenssen, Karin Mack und Friedericke Pezold, die gegen männliche Dominanz in der Kunstszene rebellierten. Im selben Raum wird auch das Frühwerk von Franz West präsentiert.

Der gerade 80 Jahre alt gewordenen Medienkünstlerin und Aktionistin VALIE EXPORT ist zusammen mit Peter Weibel ein Raum in der neuen Kellergalerie im Untergeschoss gewidmet. Hier werden ihre radikalen Performances dokumentarisch präsentiert und eine der wenigen (Video-)Installationen der Ausstellung gezeigt („I beat it II“).

Ein stark repräsentiertes Kapitel ist „Pop in Austria“, obwohl es diesen „als solchen“ nie gab. Die hier zugeordneten KünstlerInnen, wie u. a. Robert Klemmer, Kiki Kogelnik, Robert Lettner, Peter Pongratz und Christian Ludwig Attersee verbergen hinter greller Farbigkeit und glatten Oberflächen Kritik am Vietnamkrieg, der Massen- und Konsumkultur oder der Atompolitik.

Die österreichische Bildhauerei war bis ca. 1950 noch traditionellen Materialien und Formen verpflichtet, sie erweiterte sich danach aber radikal im Medium Objektkunst von Adolf Frohner, Padhi Friedberger, Oswald Oberhuber, Curt Stenvert, Bruno Gironcoli und Walter Pichler.

Die Ausstellung ist als das zu sehen, was sie sein möchte: ein Lehrstück, eine Zusammenfassung der österreichischen Kunstgeschichte der Moderne in 13 Kapiteln, eine wichtige Basisarbeit für weitere Forschungen und (bereits geplante) Nachfolgeausstellungen mit einem Standardwerk als Katalog.

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