Yuki Higashino
Birgit Jürgenssen. Galerie Hubert Winter

Vier dünne Eisenstäbe sind zu einem sauberen Rechteck zusammengeschweißt (ph937) – ein matt poliertes Teil, das robust und industriell, dabei aber durchaus elegant wirkt. Auf der Oberfläche ist etwas Rost zu erkennen und einige Macken, hervorgerufen von der jahrzehntelangen Lagerung. Man hat es hier aber weniger mit einer vergessenen minimalistischen Skulptur zu tun – wie man vielleicht vermuten könnte –, sondern mit einem Rahmen, der eigens für eine Fotografie der 2003 verstorbenen Birgit Jürgenssen angefertigt wurde. Die Fotografie ist Teil der Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre entstandenen Serie Stoffarbeiten, Foto­drucken, die auf gespannte Leinwand aufgezogen wurden.

Die Leinwände wiederum sind direkt auf die von der Künstlerin angefertigten Eisenrahmen geschraubt. Anstelle einer Glasscheibe verwendete sie dünne, durchscheinende Gewebe wie Gaze oder Voile (daher der Titel der Serie), was die Bilder gleichsam verschleiert und ihnen einen dunstigen Schimmer verleiht. Die Fotogra­fien selbst ergeben zusammen eine Art Kompendium experimenteller fotografischer Verfahren, es sind Fotogramme vertreten und Cyanotypien, Solarisationen und Mehrfachbelichtungen. Insgesamt umfasst die Ausstellung 19 Reihen mit jeweils ein bis 15 Bildern aus dieser Serie. mehr

Beeindruckend ist die skulpturale Präsenz dieser Fotografien. Das Aufeinandertreffen von hart zusammengeschweißtem Eisen und zarten Stoffen verstärkt besonders die taktilen Aspekte und macht wieder einmal deutlich, dass Bilder ebenso Objekte sind und Oberflächen eines Trägermaterials bedürfen – ein zwar offenkundiger, aber in der theoretischen Auseinandersetzung mit Fotografie dennoch allzu oft übersehener Umstand. Mit ihrer eigenwilligen Form der Rahmung gelingt es Jürgenssen nicht zuletzt, die Art und Weise, in der materielle Bedingungen die Rezeption eines Bildes beeinflussen, ins Zentrum zu rücken – und darauf intellektuell und ästhetisch eine Antwort zu geben.

Jürgenssens Bilder präsentieren sich als komplexes Amalgam aus formalistischer Abstraktion und surrealer Ikonografie: Bilder von Blumen, antiken Statuen und weiblichen Figuren treffen auf abstrakte, in der Dunkelkammer manipulierte Fotografien. Besonders offenkundig wird Jürgenssens Interesse für den Formalismus der Moderne in Untitled (ph940) (1990), einem Diptychon mit Nahaufnahmen zerknitterten Stoffs. Diese Stofffotografien, gerahmt von anderen Textilien, sind schnell als Kommentar auf die modernistische Auseinandersetzung mit Selbstreferenzialität zu erkennen. Three Jumping Men (ph939)(1988) wird als Triptychon von der Farbfotografie eines klassischen Männertorsos, einer fast schon abstrakten Doppelbelichtung, auf dem ein kryptisches Diagramm und trainierende Männer zu sehen sind, sowie einer weiteren Farbaufnahme eines Steinfußbodens mit einem schwarzen Kreuzmuster gebildet. In der Kombination wirkt diese Arbeit wie ein humorvoller Querverweis auf den russischen Konstruktivismus oder die Arbeiten Kasimir Malewitschs. Werke wie diese zeugen vom tiefen Verständnis Jürgenssens für die Traditionen des Formalismus und Konstruktivismus, aber auch von ihrer beeindruckenden Beherrschung einer surrealistischen Bildsprache.

Viele der in dieser Ausstellung gezeigten Arbeiten lassen eine hohe Affinität zur Kunst des frühen Bauhauses erahnen, als das Lager der Expressionisten und Surrealisten mit dem der Formalisten und Konstruktivisten um die stilistische und ideologische Vorherrschaft rang. Eine solche Lesart mag nicht so recht passen zur herkömmlichen Rezeption ihres Werks, die Jürgenssens Arbeitsweise umstandslos einer feministischen Interpretation des Surrealismus und der Auslotung des „Frauseins“ zuordnet. Damit nicht genug: Dass die Künstlerin sich in ihren Arbeiten fremde Bilder aneignet, kann auch dahingehend verstanden werden, dass sie mit anderen zeitgenössischen Debatten über Repräsentation und Originalität vertraut war – Anliegen, die man gemeinhin der Pictures Generation zuschreibt.

Dass das Gros der Werke dieser Ausstellung zum ersten Mal öffentlich gezeigt wird, macht angesichts der Tatsache, dass auch sie nur Teil einer sehr viel umfangreicheren Serie sind, einmal mehr deutlich, wie gewaltig und komplex Jürgenssens Oeuvre ist und wie erschreckend wenig Beachtung ihm zu Lebzeiten der Künstlerin zuteil wurde. Darüber hinaus stellt diese Ausstellung auch die Verengung der gegenwärtigen Rezeption ihres Werkes auf einen Gender-Aspekt in­frage. Denn an der gezeigten Serie lässt sich Jürgenssens formalistisches Interesse an Materialien und Verfahren ebenso erkennen wie ihre Vertrautheit mit skulpturalem Arbeiten oder ein Verständnis für Fragen zeitgenössischer ästhetischer Diskurse auch jenseits ihres unmittelbaren Umfelds in Österreich. 
Übersetzt von Michael Müller

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