Silvie Aigner
Früher oder Später... Erinnerungen an Birgit Jürgenssen
In: PARNASS, 1, 2004, S. 114.

„Zu den tragischen Folgen der Selbstzerstörung Europas im zweiten Weltkrieg zählt, dass das, was in den 90er Jahren vom Kunstbetrieb als gender-Debatte aus den USA importiert wurde, in den 70er Jahren in Europa schon stattfand und von diesem Kunstbetrieb unterdrückt wurde. In Österreich sind Valie Export und Birgit Jürgenssen als zwei herausragende Künstlerinnen zu nennen, die in den 70er Jahren begannen, kulturelle Konstruktionen von Weiblichkeit zu untergraben und dabei ihre Körper als Projektionsfläche kultureller Codes und deren Kritik zu benutzen." schrieb Peter Weibel im Katalog zur Ausstellung Früher oder Später von Birgit Jürgenssen 1998 in der OÖ Landesgalerie in Linz. 1 Zitiert wird ein Teil dieses Aufsatzes im Katalog The Austrian Vision, erschienen zur Ausstellung österreichischer Kunst in der Fundaçao Calouste Gulbenkian. 2 Das Zitat erscheint dabei wie die Bestätigung seines Inhaltes, handelt doch der einleitende Aufsatz zum Katalog über die österreichische Kunst der letzten Jahrzehnte beinnahe ausschließlich von der Malerei (männlicher Künstler) und beschreibt in keinem Absatz die Entwicklung und zunehmende Bedeutung der Neuen Medien, der Fotografie, der feministischen Kunst oder der Performance Art.  mehr

Der 1949 in Wien geborenen Birgit Jürgenssen ist bereits Anfang der 70er Jahre der Anschluss an das aktuelle internationale Kunstgeschehen gelungen, Ausstellungsbeteiligungen und Einzelausstellungen in Paris, Deutschland und in New York u.a. Ländern Europas folgten. Ihre Kunst nimmt vorweg, was in den 80er Jahren von international reüssierenden Künstlerinnen wie Rosemarie Trockel („Herdplatte), Cindy Sherman u. a. aufgenommen wurde. „Österreich ist ein Land des Posthumen, das Potential hier in Österreich wurde nicht erkannt. Das Künstlerinnen bereits international Erfolge hatten, wie Birgit Jürgenssen, Valie Export oder auch Friederike Pezold, hat man hier in Österreich bewusst verdrängt und diese und andere Künstlerinnen daher auch nicht gefördert", ist auch der Galerist Hubert Winter überzeugt. 
Birgit Jürgenssen arbeitete von Anfang an in unterschiedlichen Medien. Die Entwicklung ihrer Arbeiten war eng verbunden mit inhaltlichen Schwerpunkten, aber auch mit einem großen Interesse am Experimentieren mit neuen technischen Entwicklungen im Bereich Fotografie und Video. „Ich habe mir die Freiheit genommen, in unterschiedlichen Medien zu arbeiten", erzählte die Künstlerin in einem ihrer letzten großen Interviews mit Rainer Metzger, „Was ich nicht als Zeichnung darstellen wollte, habe ich als Objekt umgesetzt und wenn beides nicht passend erschien, fotografiert." 3
Dennoch empfand sie es zunächst als schwierig, die diversen Medien zusammen zu präsentieren. Erstmals zeigte sie Objekte, Zeichnungen und Fotografie in der von Valie Export zusammengestellten Ausstellung: MAGNA-Feminismus: Kunst und Kreativität, 1975, in der Galerie nächst St. Stephan. 'Die Küchenschürze' (s51), ein Objekt, dass ebenso wie die ebenfalls 1975 gezeigten 'Hausfrauenzeichnungen' (z402) durch die Abbildung in vielen Publikationen zu einem der Symbole für die feministische Kunstproduktion in Österreich wurde. Für Künstlerinnen, die sich, wie Birgit, in diesen von einem unmittelbaren Realismus geprägten Zeichnungen kritisch mit der sozialen Kodierung der gesellschaftlichen Rolle der Frau auseinandersetzten, wurde somit schnell in der späteren Kunstrezeption eine Schublade gefunden. 
Charakteristisch für die Zeichnungen von Birgit Jürgenssen ist ein ironisch-distanzierte Blick. Wenngleich sie auch eigene Empfindungen in die Darstellung einbezieht, wird ein reflexiver Abstand zur eigenen Arbeit deutlich. Die Zeichnungen beziehen ihre Motive auch aus den Modemagazinen dieser Zeit und thematisieren damit den wachsenden Einfluss der Massenmedien auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der Frau per se. Darüber hinaus war die Konzentration auf die Zeichnungen damals auch durchaus subversiv gemeint, als Antwort auf eine männlich dominierte Kunstszene, die meinte, „dass Frauen nicht zeichnen oder malen konnten. Das hat mich herausgefordert die Vorstellungen zu unterlaufen." 4

In einer Serie von Fotografien wird der eigene Körper der Künstlerin zum Medium und Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit. 'Die Gladiatorin' (ph24), 'Nonne' (ph1486), 'Totentanz mit Mädchen' (ph7), u.v.a. zeigen die Künstlerin in einer Art Performance vor der eigenen Kamera. Der eigene Körper, das eigene Gesicht wird zum Ausgangspunkt einer künstlichen, fabrizierten Maske bzw. Maskerade - Aufforderung der Frage nachzugehen, was ist Identität, sowie zugleich Metapher einer gesellschaftlichen Formation und Inszenierung. Diese Variationen von Selbstporträts spielen mit der Unklarheit über das eigentlich Subjektive, über die Identität bis hin zur Grenzüberschreitung von Tier und Mensch, und bleiben bis zu den computeranimierten Digitalfotos wie etwa 'Zebra I und II' (ph125)(ph126) , 2001 stets wiederkehrendes Thema ihres Oeuvres. Ebenso wie das faszinierende Agieren vor und hinter der Kamera, wie in den 1979/80 entstanden Farbfotos in den Konkavspiegel (ph840-850, ph863) sowie auch in den mehrteiligen Bade-Polaroids (ph1407) (1980). Bereits hier zeigt sich das Werk durchziehenden Interesse ihre Fotografien mit den der Malerei immanenten Strukturen zu verbinden. 
1980 verbindet sie diese Fotografien in der Installation '10 Tage - 100 Photos' (s29) in der Galerie Hubert Winter. Das Spiel mit der Sinnlichkeit, Haptik und Differenziertheit von Oberfläche führt Jürgenssen konsequent weiter und kombiniert in der Folge verstärkt Zeichnung und Fotografie. Führten die Zeichnungen der frühen 70er Jahre den Betrachter rasch zum Kern der künstlerischen Aussage, so sind Birgit Jürgenssens spätere, als mehrteilige Objekte zusammengefasste Fotografien eine Reise durch Historie, Literatur und Kunstgeschichtliche Ikonographie. Die darüber gelegten schwarzen Stoffe bilden dabei eine zusätzliche Strukturebene. Die „Absenz von Eindeutigkeit", die Unmöglichkeit einer eindimensionalen Interpretation oder Sichtweise ihrer Arbeit wird zum Charakteristikum, sowie das Eintauchen in die Zwischenwelt von analog und digital, in die Mehrschichtigkeit ihrer Fotografien und Zeichnungen, sowie die Durchdringung der von ihr verwendeten Medien. 
Eine eigene Werkgruppe sind die fotografischen Projektionen der Künstlerin (ph34) , die Ende der 80er entstanden sind und in einer zweiten Werkgruppe ab Mitte der 90er Jahre weitergeführt wurden. Ebenso wie in den zuvor erwähnten Fotoobjekten sind auch hier literarische und kulturgeschichtliche Bezüge erkennbar. Es sind nicht die Rollenspiele, das Verkleiden des eigenen Ich wie bei Cindy Sherman, sondern Aspekte wie das Spiel mit Oberfläche, Licht und Schatten, Linie und Fläche die ihre Fotografien neben der Inhaltlichkeit als formale Qualitäten prägen. Fotografie nicht als abbildendes Medium, sondern beinnahe wie Malerei die ihren Duktus von einer den Gegenstand beschreibenden Aufgabe emanzipiert. Ihr gesamtes Werk wurde begleitet durch Skizzen-und Tagebücher. Ihre Ausstellungstitel und Einladungen wurden stets mit besonderer Liebe zum Detail gestaltet und ausgewählt. Die Kataloge gehörten sowohl in Bezug auf Layout und Auswahl der Materialien stets mehr in den Bereich der Künstlerbücher. 

Birgit Jürgenssen hatte über ihr Werk hinaus, auch durch ihre kontinuierliche Lehrtätigkeit schon in sehr frühen Jahren einen wesentlichen Einfluss auf die österreichische Kunstszene. Zunächst arbeitete sie an der Hochschule für angewandte Kunst, und war Assistentin der 1980 an die Hochschule geholten Maria Lassnig. 1982 holte sie Arnulf Rainer an die Akademie der bildenden Künste in Wien. Dort baute sie die erste Ausbildung im Bereich künstlerische Fotografie in Österreich nach 1945 auf. Sie unterstützte und förderte bis zuletzt KollegInnen und StudentInnen. Sie war eine fixe Vertreterin der österreichischen Kunstszene, gemeinsam mit Brigitte Kowanz, Valie Export oder Eva Schlegel u.a. wurde ihre Werke stets gezeigt, wenn es darum ging, die heimische Kunstproduktion im Ausland darzustellen. Dass sie sowohl in den USA als in England und Deutschland auch erfolgreiche Einzelaustellungen in Galerien hatte, wurde hierzulande kaum reflektiert und ließ sie nicht zum Shooting Star der Wiener Szene werden. „Wir Frauen arbeiten zu vielseitig, zu differenziert wir schaffen uns keine weit hin sichtbaren Labels so wie manche unserer männlichen Kollegen" 5, analysierte sie vor einem Jahr diesen Umstand. Doch macht gerade dieses nicht Festlegen wollen auf ein eindimensionales Werk das Oeuvre von Birgit Jürgenssen so souverän. Ihre letzten Eintragungen in ihre Skizzenbücher betraf eine Ausstellung in der Galerie Hubert Winter, damals geplant für das Frühjahr 2004. Angefangen hat sie auch einen großen Block an Tuschezeichnungen und wollte wieder verstärkt im Medium der Zeichnung arbeiten. 
Ende September 2003 starb Birgit Jürgenssen. Die Galerie Winter geht nun daran, das Werk aufzuarbeiten und zu dokumentieren. Das MAK zeigt ab 16. März eine Ausstellung mit dem Titel 'Schuhwerk' in den Räumen der Galerie. Darüber hinaus wäre es jedoch an der Zeit, Birgit Jürgenssen, die bis zuletzt auch als Lehrende an der Akademie tätig war, mit einer großen, umfassenden Werkschau zu würdigen.

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