Edith Futscher
Clownerie statt Maskerade. Birgit Jürgenssens fotografische Arbeiten der 70er Jahre.
In: Gabriele Schor (Hrsg.): Ausst.-Kat. HELD TOGETHER WITH WATER. Kunst aus der Sammlung Verbund (Ostfildern: Hatje Cantz, 2007), S. 106-113.

Birgit Jürgenssen hat dem Katalog ihrer Personale von 1998 eine großformatige fotografische Arbeit (Ohne Titel (ph1735), 1997) vorangestellt, die in mehrerlei Hinsicht erstaunt. 1 Wiewohl wir Jürgenssen als Künstlerin kennen, die sich seit den frühen 70er Jahren mit der Herstellung von Schuh-Objekten beschäftigt hat - der parodistischen Transformation eines Accessoirs, das hartnäckig Geschlechtsidentität zu markieren vermag -, wiewohl wir sie als eine der 'Damen' 2 kennen , verblüfft deren modernistische Eleganz. Wir sehen eine Dame hintereinem schleierartigen Vorhang, hinter einem Schatten - gesichtslos, getaucht in eine Atmosphäre von Unheimlichkeit: Schatten erzeugen ein Abendkleid, maskieren das Gesicht. Die gleichsam mit Sand belegte Haut, Tuch und Schatten verbinden sich zu einem amorphen Gebilde; scharfe und auslaufende Flächenbegrenzungen kontrastieren einander spannungsvoll, wodurch der Prozess der fotografischen Fixierung selbst in den Blick rückt. Birgit Jürgenssen tritt uns hier mit einer surreal anmutenden Ästhetik von Weiblichkeit mehr denn einer weiblichen Ästhetik gegenüber, die sowohl mit Verschleierung und Verschattung als auch mit der nachträglichen Manipulation der fotografischen Oberfläche 3 im Dienste einer sublimen Hysterisierung arbeitet; mit einer Ästhetik, die im Sinne der Erotisierung von Rätselhaftigkeit lieber Schwindendes zu erhaschen versucht, denn enthüllt.  mehr

In Birgit Jürgenssens fotografischen Arbeiten der zweiten Hälfte der 70er und auch noch der 80er Jahre hingegen kommen Strategien der Direktheit und auch Entlarvung zum Einsatz, und dies, obwohl sie sich zeitlebens dem Problem der Maske zugewandt hat. Es sind dezidiert feministische Arbeiten, kritische Auseinandersetzungen mit traditionellen Bildern von Weiblichkeit, zugewiesenen Geschlechterrollen entlang der Achsen von Privatheit und Öffentlichkeit und vorgeformten Beziehungsgefügen, mit Fetischen und Fetischisierung, Blick- und Begehrensstrukturen, Oberflächen und deren Beschreibbarkeit - ihrem Davor, Dahinter und Darunter -, mit Spiegeln und Zerrspiegeln und auch mit weiblich konnotierten Materialen: Flüssigkeiten, Gaze, schwarze Voile - Seidenstrümpfen 4 gleich. Den eigenen Körper zumeist im Bild, mit Selbstauslöser agierend, verfremdet sie variationenreich die allzu glatte, kulturell verfestigte bildliche Präsenz von Frauenkörpern. Sie maskiert, bedeckt, beschmiert, taucht ein oder schreibt und projiziert auf die Körperoberfläche, setzt den weiblichen Körper in überraschende Beziehungen zu Gegenständlichem, worin auch die Affinität zu Surrealem deutlich wird. Subjekt und Objekt der Darstellung, Modell und Fotografin, stimmen durch das gesamte Œuvre hindurch weitestgehend überein, ohne dass je eine Selbstdarstellung angezeigt wäre. Im Verneinen eines Portrait-Zusammenhanges bei gleichzeitigem Insistieren auf der Darstellung des Selbst in verschiedensten Maskierungen scheint Jürgenssens Projekt jenem von Cindy Sherman verwandt, die in ihrer 69-teiligen Serie der Untitled Film Stills eine simulakrale Filmwelt der 50er und 60er Jahre über verschiedenst ausstaffierte Frauen-Figuren inszeniert hat bzw. die Struktur des Simulakralen selbst offenzulegen sucht. 5 Jürgenssens umfangreiches und vielfältiges graphisches Werk zeugt darüber hinaus aber auch von einer Sensibilität und auch Lust im Umgang mit Sprache: Redewendungen und bildhafte Sprachfragmente werden zeichnerisch übersetzt, sie gesellt Begriffen wie Emanzipation (z109) (1973) heitere Bildformeln zu. Ihre frühen Arbeiten sind auch Etüden im Register des Humors, der Burleske - "Das Jammern war nicht meins" 6 -, an denen Gelehrsamkeit abprallt. Im Vergleich sowohl mit den Arbeiten von Valie Export dieser Jahre als auch mit Shermans Film Stills (1977-80), um die sich eine rege Diskussion um feministische und postmoderne Ästhetik entzündete, die sich in postfeministischen Lektüren im Rahmen der Debatten um Identität beruhigt hat, sind sie demzufolge auch kaum besprochen worden. Als kanonisierter Referenzpunkt für ein performatives Konstruieren von Identitäten, das über Posen, Verkleidungen, Gesten und Masken bis hin zu Prothesen vermittelt wird, muss fortan Cindy Sherman 7 einstehen - eine Kanonisierung, die widerspenstige Artikulationsformen zum Verschwinden bringt.

Jeder hat seine eigene Ansicht (ph16) (1979) parodiert die Bildfindung Rückenakt, die sich in der Moderne großer Beliebtheit erfreute: Jürgenssen posiert rücklings und bildfüllend, unverhüllt auch im Sinne einer Tätigkeit etwa des Sich-Waschens, den Nacken freigelegt, und doch verbergend. Mehr verschämt als offensiv, die Arme züchtig angelegt, präsentiert sie uns den beschrifteten Rücken auf dem nicht etwa Jede hat ihre eigene Ansicht aber Jeder hat seine eigene Ansicht geschrieben steht. Es ist ein Rückenakt, einem Stoppschild gleich: Jeder bekommt die ihm gebührende Ansicht - dem verzehrenden Blick wird allein eine entblösste Fläche dargeboten. Die Verweigerung ist aber weniger selbstermächtigend denn selbstironisch, denn der naheliegenden Redewendung 'seinen eigenen Kopf haben', eigensinnig sein, wird hier mit einem Ausschnitt sekundiert, der den Kopf nur teilweise mit einbegreift. Die doppelte Lesart von Ansicht als Anzusehendes, Antlitz, und Anschauung, ganz zu schweigen von Ansehen, wird dadurch gebannt und so Laura Mulveys "to-be-looked-at-ness" 8 in der Verkehrung - ironisierenderweise - bestätigt. Darüber hinaus scheint das Gesicht einen monströsen Schatten zu werfen, nicht aber der Körper: Bildhafte Individualität, Person-Sein scheinen zu diffundieren. Und auch Ich möchte hier raus! (ph17) (1976) operiert mit einer beschreibbaren Oberfläche, hier als transparenter Grenze - wir sprechen heute auch von gläsernen Decken, die Frauen ein Handlungsfeld zuweisen. Die Schrift ist auf eine Glastüre gesetzt, hinter der sich, adrett und bürgerlich verkleidet, Birgit Jürgenssen befindet, die in einer grotesk zaghaften Pose diese Schwelle hin zur Öffentlichkeit eben nicht (allein) zu durchschreiten vermag. 9  Hände, Nase und Wange sind in Umkehrung der leicht erhabenen Frauenfigur der Brosche gegen die plane Versperrung gedrückt. Die Wange wird zu einer kreisrunden Druckstelle im Format der Brosche, wodurch, zusammen gesehen mit der Koketterie der Hilflosigkeit, ein Clownsgesicht entsteht: Der Befreiungsversuch erscheint gleich jenem von Gelsomina in Fellinis La Strada vereitelt.

In Selbst mit Fellchen (ph679) (1977/78) kommen gleichfalls damenhafte Attribute zum Einsatz. Der divenhaft verhängte Oberkörper wird von einem animalischen Köpfchen bekrönt. Das Haar zu einer Art Fell-Haube angelegt geht in eine Tiermaske über, die einst wohl Teil eins Fuchsschals - Trophäe der alpinen Bürgersfrau - war, und wird von Jürgenssens gespitzem, rot bemaltem Kussmund ergänzt. Kein regressives ekstatisches Tier-Werden kann hier angesprochen sein, vielmehr die Zähmung der Heroïne oder femme fatale zur puppenhaften Dame. Der stoisch getragene Überwurf ist dementsprechend ein eher grobes Textil, gleich wie das zottelige Fell in der Nest (ph761) (1979) betitelten Fotografie mehr schmuddelig denn bedrohlich wirkt. Jürgenssen gewährt hier einen Blick in ihren von Seidenstrümpfen umspannten Schoß, der in einem Nest, darin zwei kleine Vogeleier, gefangen wird, und lässt uns brüten ob des perfide konstruierten Zusammenhanges von Sexualisierung und Geborgenheit. Die Naht der Nylons, Nabel und Eier im Nest fügen sich zu einem überraschenden intersexuellen Zeichen, gleich wie der Blick auf das Gebärgut und die wohl schwierige Mutterschaft verblüfft: Das Nest wirft seinen deutlichen Schatten in den Schoß zurück. Wo Valie Export in Aktionshose: Genitalpanik (1969) oder in Body Sign B (1970) mit gespreizten Beinen posierend einmal forsch männlich konnotierte genitale Aggressivität konterkariert, einmal die Apparatur weiblicher Verführung, an der noch nicht einmal mehr hantiert zu werden braucht, abschätzig als Brandmarke am eigenen Leib präsentiert 10, dort findet Jürgenssen zu einer gleichsam melancholischen Formulierung, die sich der in der zeichnerischen Vorüberlegung anvisierten Geschlechterparität im Sinne eines Ausgleichs wieder entschlägt.

Vollends grotesk aber wird der Umgang mit auferlegten reproduktiven Pflichten in der Hausfrauen-Küchenschürze (ph1578)  (1975), wo Kochen und Backen dem Austragen und Gebären angeglichen werden und die Hausfrau als eine mythische Figur vorgestellt wird, die gleichsam erkennungsdienstlich in einer Serie an Frontal- und Profilaufnahmen festgehalten wird. Der Herd ist zu einem kleidsamen Gerät geworden, dem Körper der Frau anheimgegeben. Die Schürze ist objektgeworden, eine Art Bauchladen, darin - in der Röhre - ein Laib Brot als Frucht des Leibes. Wie schon Louise Bourgeois in ihren Gemälden und Zeichnungen der Femmes-maisons (1946/47) oder Meret Oppenheim mit ihren Robes de Diner (1942-45) 11, wo das tragbare Kleid zum gedeckten Tisch wird, sinniert Jürgenssen hier über die drohende Anverwandlung von Gehäuse oder Gerät, die Naturalisierung und Verkörperung von Häuslichkeit, und sie hat auch die doppelbödigen Anforderungen an das Hausfrau-Sein, das eben nicht allein ein Berufsbild ist, karikiert: Dem männlichen Wunschbild der sexuell anziehenden Putzfrau wird in der ZeichnungBodenschrubben (z402)  (1974) mit einer munteren sadistischen Geste entgegnet, derzufolge die auszuwringenden Putzfetzen kleine Gatten im Beamtenkleid sind. 12

Es sind dies Arbeiten, die auf eine 'Zurück-an-den-Herd'-Politik der Nachkriegszeit reagieren. Das humoristische Potenzial der Fotografien zielt deutlich auf gesellschaftliche Machtverteilungen und entsprechende Darstellungskonventionen, nicht auf die Möglichkeit mannigfacher Identitätskonstruktionen als Befreiungspotenzial. Hausfrauen, Mütter und Damen werden kritisch inszeniert und dies in eben jenen Jahren, in denen die Zweite Frauenbewegung in Österreich rund um die sozialdemokratische Familienrechtsreform (1975-78) erste realpolitische Erfolge zu verzeichnen hatte. 13 Parallel dazu begann sich die autonome Frauenbewegung mit ihrem Anspruch einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung hin zu postkapitalistischen und postpatriarchalen Formen des Lebens und Arbeitens in eine Frauenprojekteszene 14 zu entfalten. Auch Künstlerinnen organisierten sich rund um die Galerie Grita Insam, erste Frauen-Ausstellungen fanden statt, so etwa Valie Exports 'Magna. Feminismus: Kunst und Kreativität' 15, in der neben Meret Oppenheim, Maria Lassnig, Friederike Pezold, Cora Pongracz und vielen anderen auch Birgit Jürgenssen vertreten war; die Internationale Aktionsgemeinschaft bildender Künstlerinnen IntAkt wurde 1977 gegründet, in den frühen 80ern dann der Verein Frauen 84, der von der damaligen Staatsekretärin Johanna Dohnal und Valie Export mitgegründet wurde. Künstlerinnen kämpften um Ausstellungsbeteiligungen und Repräsentanz in Sammlungen, die geschlechtergerechte Vergabe von Stipendien und öffentlichen Aufträgen, um Lehraufträge und Stellen an den Kunsthochschulen. Inhaltlich waren die Diskussionen dieser Jahre von der Frage geprägt, inwiefern das Ausstellen von Frauen-Kunst Künstlerinnen befördere oder ghettoisiere, inwiefern von einer weiblichen oder feministischen Kunst und Ästhetik gesprochen werden kann 16 - neben der künstlerischen Auseinandersetzung mit einerseits Körperlichkeit und Sexualität und andererseits weiblicher Autorschaft, wurde in Bildfindungen zuallererst die soziale Platzierung der Geschlechter kritisiert.

Die vor allem angloamerikanische Kritik der Untitled Film Stills hingegen war und ist von Auseinandersetzungen um Fetischisierung und Maskerade geprägt. Sie greift auf psychoanalytische Theorien um weibliches Begehren zurück, die zwischen Mangel und Ersatzbildung, Verschleierung sexueller Identität und Aneignung (des Phallus) oszillieren. 17 Die Offensive, in der Cindy Sherman Weiblichkeit als Maskerade, als chamäleonartiges Anpassen von Identität an die jeweils gegebenen Ökonomien von Blick und Begehren zur Schau stelle, wurde dementsprechend unterschiedlich gewertet: als Fortschreibung einer misogynen Wirklichkeit, in der der Stellvertretung nicht zu entkommen sei, als postmoderne Persiflage auf essentialisierende feministische Kunst und Theorien, aber auch als subversive Aneignung des männlichen Blicks, als verstörende Arbeit an der Ordnung von Sehen und Gesehen-Werden 18. Erst Shermans Serien der 80er Jahre - das Arbeiten mit körperlichem Verfall, mit Abjektem und Monströsem, dem bedrohlichen Inwendigen der Maskerade - entschädigten für das exzessive Ausstellen voyeuristischer Strukturen: Das Auskosten der Zur-Schau-Stellung maskierter weiblicher Oberflächen in ihrer Warenförmigkeit, oberflächlicher Weiblichkeiten, habe ermöglicht, den Blick auf Verletzlichkeit zu richten, habe den Prozess der Fetischisierung torpediert. Nach Laura Mulvey erlauben die Film Stills, den Spalt zwischen Wissen und Glauben, die Struktur des 'Ich weiß, aber..', der die Fetischisierung konstitutiert, zu erfahren, erlaube das Fortschreiten von den Film Stills hin zu den sog. Bulimie-Bildern, die traumatische Erfahrung der Kastration, Kastrationsangst, selbst zu enthüllen und im Offen-Legen der Wunde - auch der Realitätsabdichtung in amerikanischen Mythen der 50er Jahre - zu defetischisieren. 19 Die Film Stills artikulieren demnach postfeministisch präfeministische Bilder von Weiblichkeit. Während Laura Mulvey die Proliferation möglicher Subjektpositionen als Hinweis auf deren grundsätzliche Instabilität versteht und damit auf der Ebene von Identitätsbildung argumentiert, will Rosalind Krauss, die in einer Art Diskurs-Abjektion entgegenete, den Spalt zwischen Wissen und Glauben ganz auf Seiten der postmodernen Irritation in bezug auf den Status der Fotografien als Kopien ohne Original veranschlagen. Indem die Aufmerksamkeit auf den Signifikationsprozess selbst gelenkt werde, werden Weiblichkeitsbilder der 50er Jahre entmythifiziert und darin repolitisiert. 'Weiblichkeit' sei dabei nicht vordergründig der Maskerade und Inszenierung geschuldet, vielmehr erweise 'sie' sich als Funktion einer Signifikationskette von gleichermassen Maske, Positionierung, Lichtsetzung, Schärfentiefe, Blickpunkt und Kamerawinkel. Und damit ziele Shermans Unterfangen eben nicht auf die wie immer präzise Rekonstruktion von Typen oder Charakteren des filmischen Universums und nicht auf eine pikturale Körperpolitik, aber auf eine Entfetischisierung des Signifikats - auch des Signifikats Frau. 20 Und hier schließt sich der Kreis hin zu konstruktivistischer Theorie, wo geschlechtliche Identitäten eben als diskursive Konstrukte verstanden werden, die ohne Rest in der Repräsentation aufgehen, wo Geschlechtsidentität selbst als Kopie ohne Original verstanden wird. 21

Auch Birgit Jürgenssen wurde in Folge für ihre Arbeiten der 70er Jahre, wo sie sich mit den Verhältnissen von Repräsentation und Weiblichkeit beschäftigen, das Etikett postfeministisch 22 verliehen. Sie beschäftige sich mit dem 'Zeichen Frau', es handle sich um "Reflexionen über mögliche Konfigurationen von Identitätskonstruktionen und subversive Akte in Bezug zur psychosexuellen Identität". 23 Der Diskurs-Geschichte Rechnung tragend, wonach in ihrem Umfeld zeitgenössisch nicht von Kodifizierung, aber von Zuschreibungen, nicht von Maskerade, aber von Rollenklischees die Rede war, kann dies als anachronistische Vereinnahmung gelten. Dem spezifischen Bildwitz von Birgit Jürgenssen Rechnung tragend erscheint darüber hinaus die Figur der Clownerie zur Charakterisierung ihrer Arbeiten geeigneter, eingedenk dessen, dass Ironie als Trope des Fetischismus 24 gelten kann , dass Clownerie und Maskerade im Hysterie-Diskurs auch aufeinandertreffen. 25

Auf Ironie als zentrale Qualität ihrer Arbeit angesprochen, formulierte Jürgenssen: "Ich weiß nicht, ob es Ironie ist. Es ist Abstand, und die Distanz, die in meiner Arbeit wirksam wird, hat damit zu tun, dass ich stark in Rollenklischees aufgewachsen bin... [...] Ich würde es nicht Tarnung nennen. Es ist bei mir eher eine surreale Praxis, durch Verschleiern sichtbar machen. Ich maskiere mich allerdings, weil es weniger um mich als um die Situationen geht, in denen ich mich darstelle, um die Geschichten, die eine Visualität bekommen. Und sowieso darum, in andere Rollen und Identitäten zu schlüpfen." 26 Der dumme Clown, die dumme Clownin als Erben von Narr, Närrin, Possenreißer oder Schelm agieren in einem Rahmen der Narration, sie 'wurschteln' sich durchs Leben, sind ungehorsam, artikulieren in der Ironie und Parodie; im Stottern, der Stummheit, dem Stolpern, in einer Maskerade von Banalität und auch Stupidität, die als Spiegel fungiert. Sie sind Widersacher der alltäglichen, weltlichen und symbolischen Ordnung - die etwa von einem weißen Clown verkörpert werden kann -, ohne kämpferisch zu sein. Sie reagieren scheinbar unangemessen. Sprachverdrehung ist ihr Mittel: es sind sogenannt einfache Menschen, die etwa einen hohen Ton nachahmen, die Lächerlichkeiten hervorkehren oder Redewendungen buchstäblich lesen, wie Jürgenssen in Das Match das trag ich mit mir selber aus (z39) (1973). Als Gegenfiguren stören sie normative Reglements, auch simple Gewohnheiten, sie verunsichern logische Schlussfolgerungen und Praktikabilitäten, so etwa Charlie Chaplin, der, wiewohl in Not geraten, gleich einem Grandseigneur Schnürsenkel an Stelle von Spaghetti verschlingt, oder Grock, der selbstverständlich den Flügel hin zum Klavierhocker schiebt. Das Clowneske ist darüber hinaus durch einen melancholischen Grundton charakterisierbar; Zerstreuung, Langeweile, Unsinnigkeit im Scheitern, im Ausgeschlossen-Sein bedingen die spezifische Komik, die stark über Mimik, Gestik oder Gebärde vermittelt wird und so auch die Verquickung von Sprache und Herrschaft vermittelt. Clown und Clownin können vom demher gleich wie die Hysterikerin als widerständige Figuren verstanden werden, wobei die Clownerie im Gegensatz zur Groteske immer liebenswert bleibt und oftmals durchdrungen ist von einer Ahnung wechselseitiger Abhängigkeitsverhältnisse. 27

Birgit Jürgenssen und auch Cindy Sherman mit ihren frühen Arbeiten, den Murder mystery people (1977-78), den Bus riders (1976) 28, wo einmal stereotype, auch männliche Figuren einer Kriminalgeschichte, einmal verschiedene Typen, die alltäglich in einem öffentlichen Bus anzutreffen wären jeweils isoliert in Szene gesetzt werden, sind Närrinnen auf der Bühne des Patriarchats. Sie parodieren (noch) nicht den Begriff des Originals auch als Geschlechtsidentität 29 , aber geschlechtliche Identitäten als Einschreibungen einer diskriminierenden Kultur. Wie auch Patricia Highsmith in ihren Little Tales of Misogyny (1977), wo frauenverachtende Bilder, die Mittelklasse-Hausfrau etwa, die Kokette oder das Opfer, in vordergründiger Naivität auf einen beissenden Sarkasmus hin zugespitzt werden, arbeiten sie mit Maskeraden als typisierenden Masken, mit narrativer Kritik, nicht Performativität. Cindy Sherman stellte in Untitled A, B, C, D, E (1975) darüber hinaus auch die Figur des Clowns vor, die zuallererst über Mimik hergestellt wird, eine Figur, die kulturgeschichtlich stark auf ein kritisches Wahr-Sprechen im sozialen und politischen Raum hin ausgerichtet ist, deren töpelhafte Überspitzung, deren Gegaukel vielleicht letztmögliche Authentizität verspricht. 30

Die Kehrseite der theatralen Clownerie im Œuvre Birgit Jürgenssens der späten 70er Jahre ist ein mehr karnevalesker Umgang mit der Maske, der in den Resonanzraum der Volkskultur und auch des spätmittelalterlichen Bildes hineinspielt. In Totentanz mit Mädchen (ph1340) (1979) kommt ein Konzept von Maske zum Einsatz, das Person-Sein in seiner Flüchtigkeit erst konstituiert. Es ist eine Maske, die an- und abgenommen werden kann, die als Gegenüber eingesetzt wird und auch als Verbergung. Der monströse Schatten als jeweils Dritter synthetisiert in der Entkörperlichung die Konfrontation des nackten oder mit Tüchern bedeckten menstruierenden Mädchens mit der Maske des Todes - alle drei aber erscheinen auf einem vertikal gehängten Leichentuch und figurieren zusammen eine vera icon.

1) Ausst.-Kat. Birgit Jürgenssen. Früher oder später. Landesgalerie Oberösterreich (12. 2.-15. 3. 1998). Wien/Weitra 1998.
2) Vgl. Ausst.-Kat. Birgit Jürgenssen. Schuhwerk. Subversive Aspects of "Feminism". Museum für Angewandte Kunst Wien (17. 3. - 6. 6. 2004). Wien 2004; Als 'Die Damen' bezeichnete sich jenes humoristische Künstlerinnenquartett, das von 1987 bis 1994 (Ona B., Evelyne Egerer, Birgit Jürgenssen und Ingeborg Strobl; nach Austritt von Ingeborg Strobl gesellte sich ab 1993 Lawrence Weiner als vierte 'Dame' hinzu) in der Wiener Kunstszene für Aufruhr sorgte. Vgl. Genta Chidori, Ona B.: Die Damen. Wien u.a. 1994.
3) Es handelt sich laut Hubert Winter um eine Doppelbelichtung. Ich danke Hubert Winter dafür, mir Einblicke in die Materialien aus dem Nachlass gewährt zu haben.
4) Vgl. etwa Norma Broud, Mary D. Garrard (Hg.): The Power of Feminist Art. The American Movement of the 1970s, History and Impact, New York 1994; Silvia Eiblmayr u.a. (Hg.): Kunst mit Eigen-Sinn. Aktuelle Kunst von Frauen. Texte und Dokumentation. Wien/München 1985.
5) Rosalind Krauss: Cindy Sherman. 1975-1993. New York 1993. Vgl. die Artikel von Abigail Solomon-Godeau und Gabriele Schor in diesem Katalog.
6) Birgit Jürgenssen im Gespräch mit Rainer Metzger: Kunstforum International. 164/2003, S. 245.
7) Vgl. etwa eine Titelfindung wie: Fritz Franz Vogel: The Cindy Shermans. Inszenierte Identitäten. Fotogeschichte von 1840-2005. Köln/Wien 2006.
8) So begreift Mulvey die Kodifizierung der Frau durch das Angeblicktwerden eines männlichen Gegenüber bzw. Betrachters. Dies.: Visual and Other Pleasures. Bloomington/Indianapolis 1989, S. 19.
9) Sowohl "Jeder hat seine eigene Ansicht" als auch "Ich möchte hier raus" existieren in Varianten; erstere in einem Bildausschnitt, der den Kopf sehrwohl miteinbegreift (Estate Inv.nr. ph15), zweitere mit Angabe der Türschnalle (ph1739).
10) Vgl. Ausst.-Kat. Valie Export. Centre national de la photographie, Paris (Sept.-Dez. 2003) u.a.. Paris 2003, S. 14 und 15 bzw. meinen Artikel zu Valie Export in diesem Katalog.
11) Bourgeois' Arbeiten können darüber hinaus auch in einem Zusammenhang der Örtlichkeit von Erinnerungen und Ur-Szenen verstanden werden. Vgl. Marie-Laure Bernadac: Louise Bourgeois. Paris/New York 1996, S. 23-28; Thomas Levy (Hrsg.): Meret Oppenheim. From Breakfast in Fur and Back Again. The Conflation of Images, Language, and Objects in Meret Oppenheim's Applied Art. Bielefeld 2003, S. 114-115.
12) Diese Zeichnung wurde 1990 von den 'Damen' für einen Kalender der Österreichischen Tabakwerke reinszeniert - die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wurde demzufolge als nachhaltig erlebt. Vgl. G. Chidori, Ona B.: Die Damen (Anm. 2), o. S.
13)  Folgende Errungenschaften waren zu verzeichnen: die Einführung von Karenzgeld, von Pflegeurlaub auch für Männer und der Sondernotstandshilfe für arbeitslose Alleinerzieherinnen, die Einführung des Begriffs der partnerschaftlicher Ehe mit der Festschreibung einer zumindest prinzipiellen Mitverantwortung der Männer für Kindererziehung und Haushalt; die Abschaffung der Wohnsitzfolge für Ehefrauen; die Entkriminalisierung der Abtreibung und die Einführung der sog. Fristenlösung 1975; 1979 dann ein Gesetz, die Gleichbehandlung von Mann und Frau die Entlohnung betreffend und einen Kabinetts-Beschluß zu einer Quotenregelung von damals angestrebten 25 %. Vgl. Marion Wisinger: Land der Töchter. 150 Jahre Frauenleben in Österreich. Wien 1992, S. 189-190.
14) Autonome Gewaltschutzeinrichtungen entstanden gleich wie Bildungs- und Kulturprojekte. Vgl. Brigitte Geiger, Hanna Hacker: Donauwalzer Damenwahl. Frauenbewegte Zusammenhänge in Österreich. Wien 1989.
15) Auss.-Kat. Magna. Feminismus: Kunst und Kreativität. Kuratiert von Valie Export. Galerie Nächst St. Stephan, Wien 1975.
16) Vgl. Sylvie Aigner: Eigen-Sinn und Gruppengeist. Das Jahrzehnt der Frauen von 1975 bis 1985. In: Ausst.Kat. Künstlerinnen-Positionen 1945 bis heute. Mimosen - Rosen - Herbstzeitlosen. Krems 2003, S. 104-114.
17) Vgl. Joan Rivière: Weiblichkeit als Maskerade (1929). In: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt am Main 1994, S. 34-74; Jacques Lacan: Die Bedeutung des Phallus (1966). In: Ders.: Schriften II. Hrsg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger. Weinheim/Basel 1986, S. 119-132. Während Rivière Weiblichkeit als Maske versteht, die Rivalität in eine Geste der Unterwerfung verwandelt, um Kastration zu entschulden - die Maskerade fungiert demnach als ein Sich-Klein-Machen im Sinne einer Wiedergutmachung, einer Reaktionsbildung -, bezeichnet Lacan die Beziehung der Frau zum Signifikanten Phallus als Maskerade, als paradoxe Struktur: Indem die Frau als begehrtes Objekt oder Andere der Phallus ist, zeige sie den Mangel - Ursache der Kastrationsangst - an. "Ist die Maskerade die Folge eines weiblichen Begehrens, das maskiert werden mußte und damit in einen Mangel verwandelt wurde, der nun irgendwie zum Vorschein kommen muß? Oder folgt sie gerade daraus, daß dieser Mangel verleugnet wird, um den Anschein zu erzeugen, der Phallus zu sein?" Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (1990). Frankfurt am Main 1991, S. 80.
18) Die vielstimmigen Diskussionen sind nachvollziehbar über: Krauss: Cindy Sherman (Anm. 5) und Laura Mulvey: A Phantasmagoria of the Female Body: The Work of Cindy Sherman. In: New Left Review 188/1991, S. 136-150. Zur Verleugnung feministischer Lesarten vgl: Abigail Solomon-Godeau: Suitable for Framing: The Critical Recasting of Cindy Sherman. In: Parkett 29/1991, S. 112-121.
19) Mulvey: A Phantasmagoria (Anm. 18), S. 145-148.
20) Vgl. Krauss: Sherman (Anm. 5).
21) Vgl. Butler (Anm. 17), z.B. S. 215.
22) So etwa von Rainer Metzger (Anm. 6), S. 237.
23) Doris Linda Psenicnik: Identität, Geschlecht und Konstruktion. Künstlerische Interventionen im Spektrum feministischer Strategien zu Fragen der Geschlechtsidentität. Mit einem Schwerpunkt auf dem fotografischen Œuvre Birgit Jürgenssens. Dipl. Graz 2001, S. 99-100 und 104.
24) Vgl. Naomi Schor: Fetishism and its Ironies. In: 19th Century French Studies, 17/1988-89, S. 94. Vgl. Weissberg: Weiblichkeit als Maskerade (Anm. 17), S. 18.
25)  Lacan versteht Hysterie als ein Missglücken der Maskerade. Als 'période de clownism' bezeichnet Richer in seinem Tableau des sogenannt großen hysterischen Anfalls (1881) die Phase zwischen epileptoidem Krampfen und den 'leidenschaftlichen Haltungen', also als eine Art hysterischer Hysterie, die unklassifizierbar bleibt. Vgl. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot (1982). München 1997, Abb. 46 und S. 295.
26) Birgit Jürgenssen im Gespräch mit Rainer Metzger, Abschrift; in der gedruckten Fassung abgeändert in: "Es ist Selbstironie." (Anm. 6), S. 235 und 243.
27) Vgl. Constantin von Barloewen: Clown. Zur Phänomenologie des Stolperns. Frankfurt am Main 1984.
28) Vgl. die Beiträge zu Sherman in diesem Katalog.
29) Vgl. Butler (Anm. 17), S. 203.
30) Zur Serie der Clowns von 2003 befragt, antwortet Sherman: "[...] ich wollte sozusagen etwas hinter dem Make-up finden, etwas Fremdes, das hindurchscheint." Ohne Make-up. Ein Interview von Cindy Sherman mit Isabelle Graw. In: Cindy Sherman: Clowns. München 2004, S. 44.

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