14.06.19 bis 22.09.19
Birgit Jürgenssen (1949-2003) gehörte neben Valie Export und Maria Lassnig zur Avantgarde der 1970er Jahre in Österreich. An kunsthistorische Traditionen, wie den Surrealismus, anknüpfend, entwickelte sie im Stillen ein eigenständiges Œuvre, das neben einem großen Fundus an Zeichnungen auch Skulpturen, experimentelle Objekte, Videos und vor allem Fotografie umfasst. Unter dem Titel Ich bin. zeigt die Kunsthalle Tübingen die erste umfassende Werkpräsentation der Künstlerin in Deutschland. Dreh- und Angelpunkt im Werk von Birgit Jürgenssen ist der weibliche Körper. Dieser ist nicht nur Gegenstand ihrer in realistischer Manier ausgeführten Zeichnungen, mit denen sie ihre Lebensumwelt selbstironisch porträtiert. Der Körper ist auch erste Erfahrungsinstanz, der von ihr als psychisch-mentaler und emotionaler Resonanzraum erforscht wird. In über 1000 Zeichnungen hat sie mit seismografischem Spürsinn festgehalten, was dem begrifflichen und damit bewussten Erfassen vorausgeht. Zwischenmenschliche Beziehungen, Sexualität, gesellschaftlich bedingte Schönheitsvorstellungen und Geschlechterverhältnisse werden von ihr mit subversivem Humor ebenso reflektiert und dekonstruiert wie tiefere Schichten ihrer eigenen Identität. Der gesellschaftlichen Umbruchsituation in den 1970er Jahren entsprechend, reagiert sie sensibel und kritisch auf eine zunehmend industrialisierte und damit „entzauberte“ Umwelt und spürt, geleitet von einem sinnlich-instinktiven Empfinden, der Wesensverwandtschaft von Mensch, Pflanze und Tier nach. In der Tradition der Surrealisten verwandelt sie den menschlichen Körper, das Tier und die Pflanzen in traumartigen Szenarien in Mischwesen. Indem sie den menschlichen Körper mit dem Adersystem von Blättern gleichsetzt, werden alte Mikro-Makro-kosmos-Vorstellungen für die Gegenwart produktiv gemacht. Ihre Zeichnungen, Collagen und Fotomontagen sind von einer empathischen Fantasie gegenüber der Natur geprägt und zeugen von einem integralen Bewusstsein, dass wir in einer unsichtbaren Wechselwirkung mit der uns umgebenden Umwelt stehen. Das umfassende Werk von Birgit Jürgenssen ist nicht nur als kollektives Zeitzeugnis interessant, das das Lebensgefühl und den Zeitgeist von den 1970er über die 1980er bis in die 1990er Jahre wiederspiegelt. Ihr körperbezogener Ansatz erhält gerade heute, in einer Zeit in der es durch die Digitalisierung zu einer zunehmenden Verflachung der Alltagswahrnehmung kommt, neue Aktualität. Ihr Werk, das aus dem Intimen kommt, steht nicht zuletzt für ein authentisches, innengeleitetes Leben und letztlich auch für den selbstbestimmten und emanzipatorischen Impuls der Kunst.
Ausstellungskritiken:
Steven Zultanski
Birgit Jürgenssen. I Am. Louisiana Museum of Modern Art