Die Engel rebellieren um Mitternacht
27.04.24 bis 13.07.24
Selbst mit Fellchen, 1974/77 – die markante Selbstinszenierung der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen (1949–2003) mit Tiermaske und keck zum Kuss gespitzten roten Lippen gilt über zwei Jahrzehnte nach ihrem frühen Tod, als Ikone feministischer Kunst. Mehr als nur modisches Accessoire wird das Fuchs-Fell zum anverwandelten Teil des eigenen Gesichts und stellt damit auf unheimliche Weise die Körpergrenzen infrage. Ihre selbstbewusste wie humorvolle Antwort auf die vermeintliche wesenhafte Nähe zwischen Frau und Natur bzw. die sexuelle Fetischisierung des weiblichen Körpers widmete die Künstlerin keiner geringeren als Meret Oppenheim. Vokabular und Methoden des Surrealismus dienten Birgit Jürgenssen, deren künstlerische Praxis von Zeichnung und Druckgrafik über verschiedenste fotografische Verfahren und performative Körperkunst bis hin zu den Objekten des Schuhwerks reicht, als wichtige Bezugspunkte ebenso wie Literatur, Psychoanalyse und Strukturalismus. Die internationale Anerkennung ihres pionierhaften emanzipatorischen Œuvres, die mit ihrer posthumen Retrospektive 2010/11 in Wien einsetzte,[1] durfte Jürgenssen, die Peter Weibel einmal als „missing link“ in der Geschichte feministischer Kunst bezeichnete, selbst nicht mehr erleben. mehr
Im Klima eines männlich dominierten öffentlichen Lebens und Kunstbetriebs begann Birgit Jürgenssen Anfang der 1970er Jahre mit den Mitteln der Maskierung und der Verwandlung eine subtile, oftmals selbstironische Kritik an gesellschaftlichen Dogmen und kulturellen Konstruktionen von Weiblichkeit zu formulieren. Die spielerisch-subversive Aneignung einer Vielzahl in Umlauf befindlicher Masken und Posen ermöglicht Jürgenssen eine lustvolle Überschreitung von Identitätsgrenzen – zwischen den Geschlechtern, zwischen Mensch und Tier, Mensch und Objekt, Natur und Kultur, zwischen Organischem und Artifiziellem. Birgit Jürgenssens unbeirrte Arbeit an diesen Übergängen bedeutete folgerichtig auch, sich über einen homogenen, wieder erkennbaren „signature style“, über Mediengrenzen oder herkömmliche kunsthistorische Kategorisierungen hinwegzusetzen – eine Qualität, die jedoch erst posthum geschätzt werden konnte.
Durch Strategien von Selbstironie, Parodie, Subversion und sprachlicher Bedeutungsverkehrung legte Birgit Jürgenssen die konventionellen Darstellungsformen des Weiblichen bloß und ließ dabei jeden „orthodoxen“ Feminismus hinter sich. Im Zentrum ihrer künstlerischen Auseinandersetzung stand der eigene Körper, den sie als Ort künstlerischer Intervention einsetzte und gleichzeitig als Projektionsfläche sozialer und kultureller Codes entlarvte. Anders als Kolleginnen wie Yoko Ono, Marina Abramović oder auch Valie Export, inszenierte sich Birgit Jürgenssen jedoch nie in provokanten öffentlichen Performances, für die sie sich als zu „scheu“ bezeichnete, sondern legte ihre Arbeit poetischer und intimer an. Wie sehr Jürgenssen dabei die Körperoberfläche als Ort der Durchlässigkeit und des Experiments mit dem „Anderen“ einsetzte, offenbaren Werkserien wie die Körperprojektionen, 1987/88, fotografisch fixierte Projektionen von Bild- und Schriftzeichen auf nackte Haut, in denen die Künstlerin Körper- und Bildoberfläche semantisch und medial miteinander verschränkt. Für ihre Serie der Rankings, 1999, griff Jürgenssen auf Fotografien nackt miteinander ringender Frauen zurück, die während einer Aktion an der Akademie der bildenden Künste in der Meisterklasse von Arnulf Rainer entstanden waren, als deren Assistentin sie über zwei Jahrzehnte unterrichtete. Auf der Suche nach einer adäquaten medialen Bearbeitung wählte sie flüssige Badeessenzen, die nicht nur den Bildträger angriffen, sondern deren Formlosigkeit sich auch auf die Körper zu übertragen scheint, die sich in den fluiden Raum auflösen.
In Jürgenssens surreal anmutenden Rayogrammen der Naturgeschichte sind Mensch und Natur untrennbar miteinander verbunden. Sie zeugen von einer gesteigerten Sensibilität, einer Beziehung zur Welt, die vermeintlich getrennte Sphären in Frage stellt, die Verbindungen aufspürt und die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen überwindet, durchdrungen von einem tiefen und überaus aktuellen ökologischen Bewusstsein.
Text von Heike Eipeldauer
[1] Gabriele Schor und Heike Eipeldauer, Birgit Jürgenssen, Ausst.-Kat. Bank Austria Kunstforum und Sammlung Verbund, München 2010. Inzwischen befinden sich Birgit Jürgenssens Arbeiten in wichtigen internationalen Sammlungen wie MoMA, New York, Tate Modern, London, Centre Pompidou, MNAM-CCI, Paris etc. Zwischen 2018 und 2020 tourte die vom Estate Birgit Jürgenssen, Wien, initiierte Ausstellung Birgit Jürgenssen. Ich bin (2018–20) an die Kunsthalle Tübingen, GAMeC – Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea, Bergamo, Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk und Weserburg Museum für Moderne Kunst Bremen.