Andreas Langen
Birgit Jürgenssen. Ich bin.
in: EIKON, Issue 105, S.80-82

Birgit Jürgenssen. Ich bin.

Kunsthalle Tübingen, 10. November 2018 - 17. Februar 2019

GAMeC, Bergamo, 8. März - 19. Mai 2019

Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk,

13. Juni - 22. September 2019

Das Leben ist ungerecht, auch in der Kunst. Ein paar Zufälle hin oder her, und der weltweit gefeierte Star weiblicher Selbstinszenierung mittels Fotografie hieße vielleicht nicht Cindy Sherman, sondern Birgit Jürgenssen. Doch es kam anders. Die Wienerin ist, zumindest außerhalb ihres Heimatlandes, noch zu entdecken. So zeigt die Kunsthalle Tübingen erst jetzt die erste umfassende Einzelausstellung in Deutschland - 15 Jahre nach Jürgenssens frühem Tod im Alter von gerade mal 55 Jahren. Als Nachkriegskind einer kunstaffinen Arztfamilie geboren, bekommt Jürgenssen im Teeniealter von ihrem Vater den ersten Fotoapparat geschenkt. Spätestens damit beginnt ihre lebenslange Leidenschaft für die Lichtbildnerei, und zwar im altmodischen, fast alchemistischen Sinne. Jürgenssen hat das Medium stets in der ganzen Breite einer Möglichkeiten bespielt und genutzt, mit einem starken Sinn für Grenzüberschreitungen weit ins Experimentelle hinein. Gleichzeitig wurde die kreativ Hochbegabte immer wieder schmerzhaft mit den Beschränktheiten des Zeitgeistes konfrontiert. Zwar schafft es Jürgenssen 1967 trotz fehlenden Grundstudiums in die Grafik-Meisterklasse der Wiener Hochschule Für angewandte Kunst. Doch später ist für Birgit Jürgenssen im Mittelbau Schluss. Als Lehrbeauftragte erst bei Maria Lassnig, dann bei ArnulfRainer an der Akademie richtet sie immerhin den FotograJieUnterricht ein und betreut diesen Bereich zwei Jahrzehnte lang. Jenseit der Akademie aber scheitert sie bisweilen an einer Ignoranz, die heute unvorstellbar scheint: 1974 schlägtj ürgenssen dem DuMont Verlag in Köln einen Sammelband über Künstlerinnen vor und erhält eine Abfohr; das Gleiche wiederholt sich 1979. In Wien sah es kaum besser aus. Zum Internationalen Jahr der Frau 1975 war eine Gruppem usstellung österreichischer Künstlerinnen geplant kuratiert von einer komplett männlich besetzten Jury. Birgit Jürgenssen sagt dankend ab und schafft eine Ikone der feministischen Kunst: das Objekt  mehr

Hausfrauen-Küchenschürze ,einen umschnallbaren Herd mit Ofenluke auf Höhe der weiblichen Scham.Die Tübinger Ausstellung zeigt neben der Skulptur auch die Selbstportrait mit Schürze, die Jürgenssen im Duktus erkennungsdienstlicher Fotos hergestellt hat, en face und im Profil. Solche performativen Inszenierungen sind ein Stilmittel, das Jürgenssen immer wieder einsetzt. Dazu kommen Fotogramme, Cyanotypien, Mehrfachbelichtungen, Übermalungen mit Farben,Stiften und Dunkelkammerchemie, Polaroids inklusive deren gezielter Teilzerstörung, Projektionen, Collagen aus Fotografie und Grafik, zum Ende hin erste Arbeiten mit digitalen Kameras und Videos. Birgit Jürgenssen hat etwa 4500 Arbeiten in vielen Medien hinterlassen: Zeichnung, Skulptur, Malerei und eine vierstellige Zahl fotografischer Werke. Das herausragend sensibel gestaltete Katalogbuch und die Tübinger Ausstellung erschließen diesen Kosmos durch klug gezogene Sinn- und Sichtachsen. Eine stringente Folge von Kabinetten und Nebenwänden versammelt alle relevanten Positionen der jürgenss'schen Fotografie, mit angemessen viel Platz für ihren vielleicht eigenständigsten Beitrag zum Medium -mit hauchdünner Gaze überzogene Prints, deren rätselhafte physische Präsenz eine Bildgattung ganz eigener Art hervorbringt. Das hat zeitlose Klasse, wie auch die spontanen Reaktionen junger Besucher zeigen: Was eine Frau wie Jürgenssen mit sich, ihrem Körper und ihrer Selbstdarstellung vor der Kamera macht, das versteht die Generation Selfie intuitiv. Bleibt zu hoffen, dass Jürgenssens kämpferischer Appell zur Selbstbefreiung verstanden und befolgt wird - zeitlos auch er, besonders in Zeiten grassierender Engstirnigkeit sogenannter .,ldentitärer". Die wollen ja vor allem ihre gute alte Zeit zurück, als Frauen vornehmlich im adretten Kostüm posierten. Exakt wie Birgit Jürgenssen in ihrer vielleicht bekanntesten Arbeit auftritt: affirmativ, bis auf eine Kleinigkeit, denn der Spießbürgertraum mit Seitenscheitel trägt den höflichen, doch unzweideutigen Titel Ich möchte hier raus!.

Andreas Langen

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