Adrienne Braun
Birgit Jürgenssen Rollen Spiele
in: Art November 2018, S. 76-82

Um Geschlechterklischees zu entgehen und ihre Identität als Frau zu erforschen, produzierte Birgit Jürgenssen in den Siebzigern wie besessen Kunst. Die Wienerin nutzte ihren eigenen Körper und war mit ihrem Werk ihrer Zeit voraus. Solch ein Selbstbewusstsein muss man haben - und das schon als Kind. Dass Birgit Jürgenssen bereits als Achtjährige Bilder von Picasso abzeichnete, das mag noch angehen. Die Signatur, die sich das kleine Mädchen zulegte, war allerdings kühn: BICASSO Jürgenssen. Ihr Spitzname war Bi - und nachdem Freunde der Eltern von einer großen Picasso-Ausstellung in Paris geschwärmt hatten, tauchte das kleine Mädchen in dessen Werk ein, zeichnet seine Motive in ihre Schulhefte und eignet sich gleich noch den Namen des großen Meisters an, auf ihre Weise. Birgit Jürgenssen (1949 bis 2003) liebte das Rollenspiel. Immer wieder schlüpfte sie in ihrer künstlerischen Arbeit in andere Identitäten. Hier spielte sie mit Werken der Kunstgeschichte, dort mit gesellschaftlichen Stereotypen.Ihre liebste und zugleich verhasstestem Rolle war die der Hausfrau und Mutter , an der sie sich mit bitterböser Ironie abarbeitete.Die KUNSTHALLE TÜBINGEN widmet Jürgenssennun die erste große Einzelausstellung in Deutschland, bei der selbstverständlich ihre markanteste Arbeit zu sehen ist: HausfrauenKüchenschürze. Für das Fotodiptychon von1975 hängte sich die Künstlerin einen Herd mit zwei Kochplatten um . Im geöffneten Backofen ein Brotlaib, der an die derben Sprüche des Volksmunds erinnert. Sätze wie »Die hat einen Braten in der Röhre« waren in Jürgenssens Jugend gang und gäbe. Birgit Jürgenssen wächst in einer Wiener Arztfamilie auf- mit starren, tradierten Strukturen. Deshalb will sie die Vorurteile und Rollenbilder, mit denen sie konfrontiert ist, »aufzeigen und die Missverständnisse des Alltags darstellen«. So zeichnet sie Frauen beim Bodenschrubben (1975), wobei sie statt Putzlumpen mit Männerfigürchen den Boden wienern. Sie zeichnet die Hausfrau als Raubtier im Käfig oder auch ein halb nacktes Dienstmädchen (1976) mit Servierschürze, deren Brüste feilgeboten werden in einem BH in der Form von Pumps. Auf ihrer wohl bekanntesten Fotografie, die heute dem Pariser CENTRE POMPIDOU gehört, sieht man sie in adretter Spitzenbluse hinter einer Glasscheibe, auf der steht: »Ich möchte hier raus !« Andere hätten wohl wütend gebrüllt : »Ich will ier raus!« Aber Jürgenssen ist keine Feministin der kämpferischen Sorte. Sie schwingt keine Plakate, sondern agiert zurückgezogen im Atelier. Fast brav zeichnet sie mit zartem Buntstift und analysiert dabei präzise und differenziert die Rolle der Frau. Jürgenssen will nicht den Männern den Kampf ansagen sondern der größeren Frage nach der Identität ansich nachspüren, erforschen, was sie ausmacht. •Ich bin, was immer ich in Bezug auf Andere bin•. schreibt sie einmal in ihr Notizbuch. Bei der Zeichnung Let sleeping dogs lie (1972) sitzen sich Mann und Frau am Tisch gegenüber, die Gesichter verhüllt, die Hände durch Fäden verbunden. Hier sind beide Geschlechter ins gesellschaftliche Korsett eingeschnürt . Doch der Erfolg, den Jürgenssen sich so erhoffte und der ihrem Werk absolut angemessen wäre, bleibt aus. Die Widerstände gegen Künstlerinnen sind groß. Arnulf Rainer, bei dem Jürgenssen als Assistentin arbeitete, gibt ihr das Gefühl, dass Frauen nicht malen können. Das fordert die junge Frau her aus, sie verarbeitet diese Zuschreibungen künstlerisch und hofft, dass die Zeit für sie arbeiten möge - wie eine anrührendeZeichnung zeigt . Während die Mutter wegschaut, klettert das Töchterchen darauf aus dem Kinderwagen heraus und springt auf den Zug auf einem Werbeplakat auf: »Mit der Bahn heute in eine bessere Zukunft«. Doch die bessere Zukunft stellt sich nicht ein. Ernüchtert konstatiert Jürgenssen, dass sich die Situation für Künstlerinnen nicht wesentlich ändert. Sie würden entweder als »Girl« oder als »über Go-Jährige« akzeptiert, »die Zeit dazwischen ist Schwerarbeit«, meint sie. Wer weiß, ob Jürgenssen jenseits der Sechzig ihren großen Durchbruch erlebt hätte. Es kam nicht mehr dazu. 2003 starb sie an Krebs, sie war gerade Anfang 50. Vermutlich wäre Birgit Jürgenssens Werk nach ihrem Tod im Nirwana verschwunden,wäre Gabriele Schor nicht 2004 angetreten, Arbeiten von ihr zu erwerben . Schor leitet die Kunstsammlung des österreichischen Energieversorgers Verbund, die auf feministische Avantgarde spezialisiert ist. Sie hat schon einige bemerkenswerte Positionen auf Dachböden und in Kellern entdeckt und wieder ins Bewusstsein gerückt. Jürgenssen ist dabei eine der stärksten Künstlerinnen. Möglicherweise war ihr Werk zu disparat für die Zeit. Sie interessiere sich aber eben eher für das Experimentieren . Auch wenn Jürgenssen bewusst ist, dass sie sich ein Markenzeichen zulegen müsste, um »am Kunstmarkt leichter erkannt und dadurch besser gehandelt zu werd en , beginnt sie in den achtziger Jahren sogar noch zu malen . GabrieleSchor ist überzeugt, dass Jürgenssen eine Unzeitgemäße und ihrer Zeit einfach voraus war, in den siebziger Jahren hätten weder Zeichnung noch Fotografie zum Kanon der künstlerischen Medien gehört .Vermutlich hätte Jürgenssen auch das rückständige Wien verlassen müssen, aber alle Anträge auf Auslandsstipendien wurden abgelehnt. So unterrichtet sie an der Wiener Akademie - und ist unermüdlich produktiv. Sie hinterlässt Tausende Negalive, an die 1000 Zeichnungen und unzählige experimentelle Objekte. Den Nachlass betreut ihr langjähriger Lebensgefährte, der Wiener Galerist Hubert Winter. Auch ihn trifft es hart, als 2001 bei Jürgenssen Krebs diagnostiziert wird. »Das Sterben war in unserem Leben ausgeklammert «, erzählte Winter einmal, »wir waren ja vollkommen lebendig.« mehr

Nicole Fritz, die neue Leiterin der KUNSTHALLE TÜBINGEN, ist 2011 bei der Retrospektive in Wien auf Jürgenssens Werk gestoßen und war sofort begeistert. Wie die Künstlerin ohne ideologische Scheuklappen den inneren Resonanzraum erobert, »das fand ich total spannend und zeitgemäß«, sagt Fritz und wird in Tübingen nun an die 200 Arbeiten präsentieren. »Das Faszinierende ist, dass das Werk so sinnlich ist und gleichzeitig so reflektiert, vorurteilsfrei reflektiert.« Jürgenssen scheint eine manische Arbeiterin gewesen zu sein. Ihr Werk ist vielfältig.Sie zeichnet, macht Objekte und experimentiert mit dem Fotoapparat. Sie füllt zahllose Notizbücher mit Skizzen, Ideen für Arbeiten, Gedichten, Wortspielen und Zitaten aus anderen Büchern. »Be really creative, refuse your role«, notiert sie einmal. Unermüdliche schöpferische Tätigkeit, um aus der vorgegebenen Rolle auszubrechen.Die Tübinger Schau will ein besonderes Augenmerk auf die Zeichnungen legen. Diese meist mit Farbstiften erstellten Blätter zeugen nicht nur von enormem handwerklichen Können , sondern vereinen auf ganz eigene Weise Humor und Bitterkeit, sind frech und ernsthalft, leichthändig und doch scharf. Stütze nennt Jürgenssen die Zeichnung einer Frau, deren Kinn auf einem Pfahl abgelegt ist, während der Hals mit einer Schnur fixiert wurde. Der abgerichtete, geknechtete Körper ist beiihr immer auch ein Sinnbild für die Gängelung durch die Gesellschaft, die das Individuum in starre Muster zwingt.

Doch die Frau, die auf einem anderen Blatt von einem Stiefelknecht fast st ranguliert wird, ist es letztlich selbst, die durch ihre Bewegungendie Seile fester um den eigenen Leib zurrt. Für Jürgenssen scheint außer Frage zu stehen, dass das Ringen gegen Rollenzuschreibungen auch immer ein Ringen mit sich selbst ist. Bei Das Match trag ich mit mir selber aus (1973) hat die Spieler in mit Tennisröckchen anstelle des Kopfes einen Schläger auf dem Hals stecken, den sie anspielt. So geht es Jürgenssen immer um eine Beschäftigung mit dem eigenen Ich und dem Körper, den sie für ihre Fotografien bearbeitet, bandagiert, maskiert, fixiert. Sie ist übrigens auch eine der ersten Künstlerinnen, die gleichzeitig vor und hinter der Kamera agiert. Hier steckt der Kopf in einem Lederkorsett, dort trägt sie eine Fuchsmaske oder fotografiert sich neben einem Totenkopf. » Jeder hat seine eigene Ansicht« steht auf einer Fotografie auf ihrem Rücken und benennt die Kluft zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Bereits während des Studiums an der HOCHSCHULE FÜR ANGEWANDTE KUNST in Wien entstehen die ersten Selbstporträts im Badezimmer vor dem Spiegel. In den Folgejahren ergründet Jürgenssen unermüdlich ihre Identität, schreibt , produziert, experimentiert - und verliert bei ihrem fast obsessiven Forscherdrang doch nie den Humor. Ihre Nähe zum Surrealismus ist unverkennbar. Das Selbst mit Fellehen (1974) verrät deutlich. Wer ihr großes Vorbild ist: Meret Oppenheim. Vermutlich hat Jürgenssen von ihr auch das Interesse an Schuhen übernommen. Mehrere Jahre spielt sie immer wieder mit dem Fetisch Frauenschuh als Sinnbild für weibliche Zuschreibungen. Der rosarote Schwangere Schuh von 1976 hat auf der Spitze ein kleines. Ein unförmiges Etwas - eine Art Fötus. lm Zungenschleckschuh steckt eine rote Zunge. Hier beißt der Schuh wie ein wildes Tier in den Fuß, dort entpuppt sich der Absatz als Penis. »Schuhe schienen mir geeignete Objekte zu sein, um meinen erotischen und zynischen Fantasien und allen anderen Interpretationsmöglichkeiten freien Lauf zu lassen«, sagt Jürgenssen. Als sie allerdings feststellt, dass sie zunehmend als »die mit den Schuhen, gehandelt wird, gibt sie das Motiv 1976 auf. Auch wenn Jürgenssens Objekte, Fotografien und Zeichnungen erzählerisch sind zeichnet ihre Werke aus, dass sie nie eindimensional geraten. Häufig bleibt ein Rätsel zurück. Ein Befremden, etwas, das sich gegen vorschnelle Deutungen sträubt. So schweben Federn über dem Körper der nackten Frau, die auf einer Massagebank ruht, gerade als erhoffe sie sich federleichte Berührungen. Der Masseur steht dagegen in Boxerstiefeln und mit bandagierten Händen tatenlos daneben. Vielleicht ein Sinnbild dafür, dass die Wünsche der Frau nicht kompatibel mit dem sind, was der Mann zu bieten hat.//

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