Irene Bazinger
Beim Zipfel des Kosaken
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Januar 2012, S. 34.

Wie die Dinge enden: Die Wiener Künstlerin Birgit Jürgenssen nimmt den Geschlechterkampf auf die Schippe

Zu einer Zeit, als sich der Feminismus noch auf allen Theorienfeldern mehr oder weniger sortierte und kaum die Rede davon sein konnte, neue Betrachtungsweisen in den Künsten durchzusetzen, hatte er auch Anhängerinnen, die ohne viel Federlesens einfach weitergingen - und auf das Lachen mit ihm wie über ihn nicht verzichten wollten. Die Wienerin Birgit Jürgenssen (1949 bis 2003) zum Beispiel machte sich schon als junge Studentin ohne jede ideologische Rücksicht über den Geschlechterkampf lustig. Bildnerisch gestalteter Humor war ihr als Erkenntnisinstrument für politische wie soziale Zusammenhänge und als undogmatisch-gewitztes Mittel zur Erschließung von Rollenmustern, Ideologiekonstrukten und Unterdrückungsmechanismen so wesentlich, dass sie darauf in ihrem gesamten späteren Oeuvre - Zeichnungen, Fotos, Graphiken, Skulpturen - vertraute.
Schönste Ironie und ein früh ausgeprägtes Gespür für die Doppelbödigkeiten der Sprache charakterisieren bereits ihre Diplomarbeit "zipfeln", mit der sie 1971 ihr Studium an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien beendete und die nun als hinreißende Faksimile-Ausgabe veröffentlicht wurde. Das gebundene, quadratische Buch umfasst 42 ganzseitige Zeichnungen. Lose beigelegt ist ein Essay von Bernhart Schwenk, der animierend in das Werk einführt.
Man könnte "zipfeln" den Genrebegriff "Thema mit Variationen" geben, denn fein gestrichelt und bizarr verfremdet taucht - abgesehen von Würsten oder Schürzen - mancherlei auf, was ein solch markantes Endstück hat, und vieles mehr, das es eben nicht hat, bekommt eines verpasst. Auf dem Umschlag etwa blicken zwei Engel hoch zu einer Gardinenstange mit goldgelben, üppig gerafften Vorhängen, zwischen denen jedoch nicht Raffaels berühmte Sixtinische Madonna zu sehen ist, sondern in kindlicher Schreibschrift theatralisch das Wort "zipfeln" steht.
Dementsprechend tragen die umdefinierten Putten nun dezente Zipfelmützen, und die Wolke, auf die sie sich stützen, läuft in einem zipfelartig gekrümmten Rüssel aus. Dieser Gestus einer unschuldigen Kindlichkeit wird im Folgenden durch die zarten Farben, die entrückte, fast märchenhafte Motivik und die naive Handschrift verstärkt. Die phallische Latenz bestimmter Konstellationen - schließlich heißt das männliche Glied in Österreich im Alltagsjargon Zipfel - wird dabei weder verschwiegen noch betont.
In Birgit Jürgenssens phantasievoller, großartig übersteigerter Bildsprache scheint der Zipfel der Inbegriff aller Schöpfung zu sein, ob in der Einzahl als organisch ein-gepasster Wurm an der Unterseite einer Birne oder als Grundform des Fisches, ob in der Mehrzahl als farbig abgesetzte Federkerne auf einer Matratze oder als locker im Gelände verteilte Hügel, auf denen sich weibliche Zwillinge wie für ein verkitschtes Familienfoto niedergelassen haben. Zum surreal verspielten Kosmos der Birgit Jürgenssen ist dieses hinreißende Buch ein exquisiter Schlüssel.

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Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2011
88 S., gebunden, 49 €; 30 nummerierte Vorzugsausgaben mit Estate Print, 290 €

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