Abigail Solomon-Godeau
Birgit Jürgenssen, von Linien begrenzt, über Grenzen hinweg
In: Gabriele Schor, Abigail Solomon-Godeau (Hg.). Birgit Jürgenssen. Ostfildern: Hatje Cantz, 2009.

Noch bevor sie irgendeine andere Bedeutung annimmt, besitzt die handgezogene Linie, ohne direkte Begrenzung auf eine Höhlenwand gezeichnet oder auf ein rechteckiges Blatt Papier gezogen, körperliche Entsprechungen. Als Kniff, Falte, Furche, Sprung, Riss, Spalt wird sie wahrgenommen, doch es ist vor allem dieser letzte Begriff, der »Spalt« (engl. »cleavage«), der uns hier interessieren soll. Das entsprechende transitive Verb »to cleave« bezeichnet den – durchaus auch gewaltsamen – Vorgang der Spaltung: »To part or divide by a cutting blow; to hew asunder; to split« (OED). Das deutsche Wort»Spaltung«, gleichbedeutend mit dem englischen »splitting«, deutet auf die Wucht dieser Handlung hin; der Begriff »Spaltung« oder »Ichspaltung« wurde von Sigmund Freud übernommen, um bestimmte unbewusste Vorgänge zu bezeichnen, eine Spaltung innerhalb der Psyche. 1 Als transitives Verb bezeichnet »to cleave« umgekehrt ein Festhalten, Vereinen, einen gegenseitigen – auch unheilvollen – Bund: »to stick fast or adhere«; »to cling or hold fast to« (OED). Diese Doppeldeutigkeit schwingt vor allem in Birgit Jürgenssens zeichnerischen Werken aus den 1970er-Jahren bis in die späten 1990er-Jahre mit, insbesondere dort, wo die Künstlerin Körper oder Körperteile in Beziehung zueinander setzt. Jürgenssen war eine bemerkenswert begabte Zeichnerin und eine akademisch ausgebildete Künstlerin, die das Zeichnen und andere grafische Medien als Modus ihres Denkens und der thematischen Entwicklung nutzte. Es gibt also viele Gründe, sich speziell mit ihrem grafischen Werk zu beschäftigen. Obwohl ihre Themen und Motive frei zwischen den verschiedenen Medien hin und her wechseln, kann man am grafischen Werk vielleicht noch am besten ablesen, wie sich Jürgenssen an einzelnen, zumeist als Serien entworfenen Projekten »abgearbeitet« hat. Sie konnte ihre Zeichnungen in strengstem »akademischem« Stil ausführen (etwa die Farbstiftzeichnungen nach Jürgenssens eigenem Körper aus dem Jahr 1978, (z732), (z722), (z725)) oder grobe, eher »primitive« Formen schaffen (wie in der Serie Mama, 1984 und Schnee vom vergangenen Jahr, 1986). Gelegentlich erinnert ihr Zeichenstil an wissenschaftliche oder technische Illustrationen, etwa die hervorragenden »botanischen« Pflanzenstudien (Verwelkte Blümchen, 1974, (z55), oder Linienblatt, UNMUSIKALISCH, 1977, (z172)) oder ihre Serie aus dem Jahr 1978, zu der Stein Schere Papier (z46) und Tag / Nacht (z48) gehören. Andere Serien innerhalb des grafischen Werks zeichnen sich durch eine außerordentlich expressionistische Bildsyntax aus (hierzu zählt eine fast abstrakte Reihe von Arbeiten des Jahres 1986); wieder andere erinnern an Illustrationen aus Kinderbüchern, an volkstümliche Karikaturen, und zumindest eine akribisch gefertigte Bleistiftzeichnung gibt sich sogar als alte Fotografie aus (Spitzenfrau, 1976, (z103)). Da sich Jürgenssen bei ihren Zeichnungen ebenso experimentierfreudig zeigt wie im Umgang mit den übrigen Medien auch, reichen diese Bilder vom Lapidaren bis zum Monumentalen. Sie zeichnet auf die Oberfläche von Fotogrammen, Notenblättern, Büttenpapier, Notizblättern, auf Seiten von Hochglanzmagazinen und vielem mehr. Manchmal scheint es sich um Vorarbeiten für Projekte zu handeln, die später in anderen Medien realisiert werden, etwa die als Dias auf ihren Körper projizierten Zeichnungen der Körperprojektionen (1987/88). Aber ganz unabhängig vom Medium lassen diese Serien in der Regel Variationen über ein bestimmtes Thema erkennen, manchmal in nur drei oder vier Arbeiten, manchmal in einem Dutzend oder mehr. Jürgenssens Serien bearbeiten und überarbeiten Motivgruppen, die zu verschiedenen Zeiten im Leben der Künstlerin und in den unterschiedlichsten Medien – experimentell und konventionell – auftauchen und sich wiederholen. mehr

Will man Jürgenssens Werk zum bereits erläuterten Begriff der Spaltung in Beziehung setzen, darf man allerdings nicht vernachlässigen, dass Jürgenssens vielfältiger Gebrauch der Linie – der (charakteristische) Strich – Bedeutungen annimmt, die weit über das Formale hinausgehen. Im Sinne des doppeldeutigen englischen »to cleave« konstituiert der Strich oder die Linie sofort die Grenzen des dargestellten Objekts, das von seinem Untergrund oder Umfeld abgesetzt wird. Innerhalb akademischer Theorie und Praxis wurde die Linie über Jahrhunderte hinweg dem Pinselstrich vorgezogen, ein Grundsatz, der bis auf Leon Battista Albertis De la pittura zurückgeht. In der künstlerischen Ausbildung stand an den meisten Akademien das Zeichnen im Vordergrund; erst spät durfte sich der Student der Malerei zuwenden. Diesem Konzept lagen – wie so vielen anderen Aspekten der Kulturproduktion auch – Vorstellungen von Geschlechterrollen zugrunde. 2 Genauer gesagt, die Linie galt als Zeichen der Individuation (von Objekten, des Körpers im Raum). Die Linie ist unveränderlich, argumentierten die Akademiker, wohingegen sich Farben nach den Lichtverhältnissen und der subjektiven Wahrnehmung richten. »Die Zeichnung ist die Redlichkeit der Kunst«, beteuerte Jean Auguste Dominique Ingres in Anlehnung an Generationen gelehrter Theoretiker. Wie die Akademiker sehr wohl wussten, kennen weder der natürliche unbefangene Blick noch die Natur eine Linie, aber genau deshalb glaubten sie, dass die Linie eine höhere Form der Wahrnehmung und bildlichen Darstellung repräsentiere.

Wie viele andere auch, war die Dichotomie Linie / Farbe hierarchisch, wobei die Linie mit der (männlichen) Vernunft assoziiert wurde und die Farbe mit der weiblichen Emotion. In unserem Kontext ist aber noch bedeutsamer, dass die Linie die körperlichen Grenzen des Selbst umreißt, so wie die Haut den Körper von seiner Umgebung trennt. Die Linie definiert den Körper als begrenzt, eigenständig und in sich geschlossen. Selbstredend wurden die ästhetischen Ideologien der Linearität bereits kritisch untersucht, vor allem, aber nicht ausschließlich, durch feministische Kunsthistoriker und -historikerinnen. 3

Dies gesagt, sticht ins Auge, wie Jürgenssen dieser Verkapselung / Trennung von Objekt und Hintergrund widerspricht, zum Beispiel in Zeichnungen wie Umgrenzungslinien eines einsamen Knies (1978, (z195)). Die »Umgrenzung« im Titel lässt darauf schließen, dass sich Jürgenssen des künstlerischen Diskurses zur Linearität bewusst war, aber wie diese Zeichnung ebenfalls zu verstehen gibt – und andere in dieser speziellen Serie auch –, ist die bewusste Entscheidung für die Linie hier Ausdruck eines (psychischen) Abwehrvorgangs. Jenseits der mit schwarzem Stift hervorgehobenen Umgrenzung schwirrt ein Kraftfeld anderer Linien, eine Art lineare »atmosphärische Störung«, die in mehreren Bildern dieser Gruppe auftaucht. Diese Felder verdeutlichen die Trennung des Körpers von seiner räumlichen Umwelt, aber deuten auch auf Kräfte hin, die vom Körperinneren nach außen oder umgekehrt auf die Körpergrenzen einwirken und so das doppelte Gesicht der Grenze selbst sichtbarmachen. In Auf der Suche nach einer gemeinsamen Linie (z71), eine Zeichnung, die im Wesentlichen auf den Prinzipien der Verdoppelung und Teilung beruht, verschluckt ein Dickicht aus Linien die oberen Hälften der gespiegelten Körper. Mit all dem soll gesagt sein, dass Jürgenssen selbst dort, wo sie sich des höchsten akademischen Stils befleißigt, Hierarchien nicht einfach umkehrt, sondern diese »aufhebt«, indem sie zeigt, wie fragwürdig, instabil und widersprüchlich sie sind.

Jürgenssen – das zeigen ihre Zeichnungen – kennt (und untergräbt) akademische Traditionen, nicht nur die Theorien zur Linearität. In der Farbstiftzeichnung »Gemeinsames Joch tragen« (z75) schirrt sie zwei Köpfe zusammen – halb Tier, halb Mensch –, die Charles Le Bruns Conférence sur l’expression des passions entlehnt sind. In der Bleistiftarbeit Auch das ewig Rätselhafte kann seinen Reiz verlieren desselben Jahres verwandelt sie den Kopf eines neoklassizistischen Architekturornaments in einen Totenschädel. Im Jahr 1980 doppelt sie in der Farbstiftzeichnung 2 Krieger (Sammlung Vastos) das schematisch dargestellte Profil eines helmtragenden griechischen Kriegers mit einer Frau, die an einer Sichel leckt – die Form der Sichel folgt jener des Helmes. In anderen Werken, etwa Der Panzer der Augustina (1974, (z107)), nimmt sich die Künstlerin den Kürass einer römischen Rüstung zum Motiv und»feminisiert« dessen martialische Symbolik nicht nur im Titel, sondern auch durch die Zugabe von Brüsten und einer Verzierung aus stereotypen Darstellungen weiblicher Unterdrückung. In der Beckenregion ist trefflich eine weibliche Figur in Strümpfen und Korsett platziert, die ihren Hut zu lüpfen scheint. Im Jahr 1984 machte sich Jürgenssen an eine Reihe von Ölarbeiten auf Papier, die von der Entführung der Europa erzählen (z745). Diese klassischen oder neoklassizistischen Ikonografien waren nicht nur Anspielungen oder Referenzen auf akademische Verfahren beziehungsweise auf die Motive der Historienmalerei, sondern auch Beispiele für deren »détournement«, die Umkehr oder Umformung in eine neue Ikonografie, die zwischen Parodie und Albtraum oszilliert.

In Text und Bild, innerhalb der Medien Fotografie, Zeichnung, Malerei, Druck, Collage, Objekt, Video und Performance, verfolgte Jürgenssen ihr künstlerisches und kritisches Vorhaben mit unermüdlicher Energie und Entschlossenheit. Vor allem die stilistische Vielfalt ihres grafischen OEuvre versperrt sich einer Kategorisierung jenseits von chronologischen und / oder thematischen Einteilungen. Jürgenssen war eine derart virtuose Grafikerin, dass sie Mitte der 1980er-Jahre ihre bemerkenswerten Fertigkeiten sogar zu »verlernen« suchte, so als betrachte sie ihr Können und ihre Fertigkeiten als Einschränkung, als Hindernis auf dem Weg zu alternativen Ausdrucksmöglichkeiten, als eine Barriere, die den Bedeutungen, die sie transportieren wollte, entgegenstand.

Genauso wie Jürgenssens gesamtes grafisches Werk vielfach formal neu gestaltet wird, so gibt es in ihm wie in Umgrenzungslinien eines einsamen Knies, wo die strapazierte Konturlinie Kräften ausgesetzt ist, die von innen und außen Druck ausüben, ein Spiel zentripetaler und zentrifugaler Energien und Kräfte. Vor allem in jenen Werken, die einen oder zwei Körper zeigen, wechseln sich gewaltsame Trennung und erstickende Verdichtung der Formen oft ab – erneut im Sinne der doppelten Bedeutung des englischen »to cleave«. Dementsprechend verweisen bestimmte grafische Arbeiten auf die Abgeschlossenheit oder Isolation des Körpers (oder der Körper), während andere eine Verschmelzung oder Verbindung, Paarungen und Vereinigungen schildern, die alles andere als euphorisch wirken. In wieder anderen sind die Figuren gefesselt oder bewegungsunfähig gemacht, in einigen Fällen mithilfe spezieller Apparaturen, welche die Gestalten ihrer Bewegungsfreiheit berauben oder diese zumindest einschränken. In The lover wants the subjection of his object freely given (1986) wird eine Gestalt von unbestimmtem Geschlecht (vielleicht zwei sich überlagernde Figuren) innerhalb einer Form, die sie vollständig umgibt und an einen Schild erinnert, halbiert. Durch diese Form läuft eine weitere Linie, die beide Körperhälften im Inneren erneut teilt. Acht Jahre zuvor und in einem gänzlich anderen, illustrativen Stil hat Jürgenssen eine männliche und eine weibliche Figur gezeichnet, die von Seilen umschlungen und zusätzlich an Kopf, Taille und Füßen gefesselt sind (Ohne Titel, 1978, (z74)). Selbst die Podeste, auf denen sie stehen, sind mit Seilen aneinander gebunden. Dieses gefesselte Paar erscheint bereits 1975, drei Jahre zuvor, in einer Zeichnung (Ohne Titel, (z72)). Dort teilen sie sich das Blatt Papier mit einem anderen Paar, das sich notdürftig in zerlumpte Brieffetzen kleidet. Die Frau schaut zu dem Mann hinüber, während beide von einem Sturmschwarzer und grauer Bleistiftstriche, durchsetzt von kleinen Salven in Rot-Orange, verschluckt zu werden drohen. In einer außergewöhnlichen Serie großformatiger Zeichnungen verschmilzt auf ominöse Weise ein mit kräftigen Bleistiftlinien gezeichnetes Paar miteinander, das man von oben auf einem Bett liegen sieht (z434)). In anderen Serien wachsen generische männliche und weibliche Figuren aus dem je anderen Körper, befrachten, umschlingen, verschlingen dessen Körper, engen ihn ein und löschen ihn aus, nehmen neue Formen an (z454). Mit anderen Worten, dem Konzept der Teilung kommen in Jürgenssens Schaffen vielfältige Bedeutungen und Ausdrucksmöglichkeit zu: die Geschlechterteilung, die Unterteilungen der Psyche, die Aufteilung (oder Ambiguität) in Innen und Außen, Innerlichkeit und Äußerlichkeit – sie alle werden verschiedentlich außer Kraft gesetzt, überschritten oder auf andere Weise in Frage gestellt.

Im amerikanischen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff »cleavage« vor allem die Furche zwischen den weiblichen Brüsten, aber »cleavage« kann ebenso die Furche zwischen den Zehen meinen, den Pobacken, die Linie, an der die Oberschenkel aufeinanderliegen, die Falten an einem abgewinkelten Arm. Fragmentiert oder abgeschnitten – einzelne Teile des Körpers können leicht für andere Teile eintreten, denn der menschliche Körper ist durch und durch semiotisiert. Der Spalt kann also als Zeichen gelesen werden, das für die Geschlechterdifferenz steht oder als ein inhaltlich nicht genau festgelegtes Zeichen für Bi-, Omni- oder Unisexualität, das sich der Projektion des Betrachters anbietet. In der bildlichen Darstellung, wie auch in der Psyche selbst, beschränkt sich das Sexuelle keineswegs auf die Genitalien oder auch nur auf die herkömmlicherweise erotisch konnotiertenKörperregionen; der kleinste Teil des Körpers kann der Projektion und Fantasie des Betrachters unendliche Möglichkeiten eröffnen.

Mit diesen Möglichkeiten im Kopf wollen wir uns Jürgenssens Achselfältchen (1978, Kat. 102) zuwenden, einer weiteren Zeichnung nach dem Körper der Künstlerin. Wir sehen ein Viertel ihres Rumpfes, von Schlüsselbein und Schulter bis zum unteren Oberarm. Den an eine Vagina erinnernden Schlitz am Übergang von Arm zu Brustkorb mag man zunächst für eine Falte halten, wie sie entsteht, wenn die Haut altert und erschlafft. Aber diese Falte wirkt besonders ausgeprägt und geschwollen, voluminöser als die überschattete Haut über der Brust. Der untere Teil des Torsos endet jedoch, bevor er vollständig als weibliche Brust erkennbar wäre, und ist nicht eindeutig als feminin oder weiblich bestimmt. Der Eindruck von Schamlippen wird noch unterstützt durch die langgezogene Bleistiftlinie, die von der Armbeuge ausgeht und zunächst diesen Spalt nachzeichnet, aber zuweit oben, verwirrend weit oben am Brustkorb endet. Es mag sich immer noch um eine Falte im Fleisch des Brustkorbs handeln, aber sie erzeugt deutlich den Eindruck einer Schwellung, die unterhalb der ansonsten geschlechtlich unbestimmten Schulter und dem Brustbein hervortritt. Ihre Länge unterstreicht diese Wirkung und deutet als Spalte (auch im amerikanischen »slit« ist die Bedeutung der Vagina enthalten) die Möglichkeit an, hier das Innere des Körpers zu penetrieren.

Solche mehrdeutigen Oberflächen, Grenzen und Formen des Körpers – beständige Motive in Jürgenssens OEuvre – werden oft von visuellen und verbalen Wortspielen begleitet, manchmal in den Werktiteln, manchmal im Werk selbst. Dieser wiederkehrende Hang zu Sprache und Textualität, zur Idee von Werk als Text (und Text als Werk) verweist auf Jürgenssens Liebe zur Sprache und Literatur, ist aber auch ein Vermächtnis der Konzeptkunst.

Ihre Kooperation mit Lawrence Weiner für I Met A Stranger (1996) ist demnach gar nicht so überraschend, wie sie angesichts Weiners programmatischer Entkörperlichung seines eigenen Kunstschaffens zunächst scheinen mag. Auf wunderbar dezente Weise mischt Jürgenssen ihre Körperfotografien unter Weiners Texte. Die rechteckigen Ausschnitte beschwören wie kleine Fenster den Voyeurismus der Peepshow, ein offenkundiger Subtext für das gesamte Projekt. Jürgenssens spielerischen Umgang mit bildlicher Gestaltung und Sprache müssen wir im Auge behalten, denn vieles in ihrem OEuvre ist verstörend, brutal und manchmal fast schon sadistisch. Diese Wirkung ist unabhängig von einem bestimmten Stil oder einem besonderen Medium. Ganz im Gegenteil: Die Leichtigkeit, mit der sie jeglichen Stil meistert, legt nahe, dass Stil für sie eine Art visuelles Lexikon war, eine Fundgrube, aus der sie etwas herauspicken und auswählen konnte, je nach Projekt, Thema oder Intention. Eine solche Arbeitsweise entlarvt die rhetorische Sprache des Expressionismus und seine Bedeutung als nur noch eine weitere darstellerische und stilistische Konvention, derer sich der Künstler bedienen kann. Dass sich Jürgenssen diese »männlichste« aller malerischen oder grafischen Arbeitsweisen aneignet, ist eine weitere Strategie des »détournement« und sagt nicht mehr über ihre Psyche oder ihr Unbewusstes aus als ihre raffinierteste und technisch meistervollste Bleistiftzeichnung. Tatsächlich besitzen jene Arbeiten, die sich auf den Primitivismus und/oder die expressionistische Traditionen à la Paul Gauguin und Pablo Picasso beziehen, ausgesprochen analytische und
kritische Elemente (Mama 6 und Ohne Titel, beide 1984, (z886)). Letzteres Werk mit seiner unverkennbaren Anspielung auf Picassos Studien zu Demoiselles d’Avignon verwandelt in einer abwertenden (und schneidenden) Geste die Ohren in Fötusse.

Insgesamt macht Jürgenssens künstlerische Arbeitsweise die normativen Verfahren der wahrheitsgetreuen oder figurativen Darstellung zunichte, denn, wie Jacqueline Rose 1986 in ihrem bedeutenden Essay bemerkte:»Die Fixierung der Sprache und die Fixierung der sexuellen Identität gehen Hand in Hand; sie sind aufeinander angewiesen und unterliegen den gleichen Unsicherheiten und Gefahren.« 4

Was wiederum nahelegt, dass die Befreiung der Sprache und der Identität – ein Unterfangen, das einen Großteil der von Frauen gemachten Gegenwartskunst kennzeichnet – zu den grundlegenden Aspekten einer Kunst gehört, die den tyrannischen Modalitäten dessen zu widerstehen sucht, was in den Gründungstexten des modernen Feminismus schlicht (oder weniger schlicht) als die strukturellen Ungerechtigkeiten, die Misogynie patriarchalischer Strukturen und das tyrannische System biologischer und soziokultureller Geschlechter verstanden wurde.

Ganz im Einklang mit der Kunstproduktion in der Folgezeit der Frauenbewegung, ist eines der zentralen Motive in Jürgenssens Werk das Bild – sowohl symbolisch wie wörtlich – des weiblichen Körpers. Dieses Bild ist jedoch – bei Jürgenssen und vielen ihrer Zeitgenossen – hochgradig aufgeladen, befrachtet, beschwert, gesättigt mit den Ablagerungen der Gender-Ideologien und sowohl als Fetisch wie als Zeichen des Fleischlichen und der Erotik überdeterminiert. Wie der weibliche Körper an sich, so wird auch das Bild von Weiblichkeit nicht als etwas Gegebenes verstanden, das seiner Darstellung vorausgeht, sondern als etwas, das erst in der und durch die Darstellung konstruiert wird. In seinen verschiedenen bildlichen Manifestation wird der weibliche Körper für Jürgenssen – und die feministische Theorie insgesamt – ein formal und inhaltlich darstellerisches Problem. Allerdings könnte man auch sagen – und hier sind sich viele der feministischen Theorien einig –, dass Darstellung immer schon durch das Problem der Geschlechterdifferenz beeinflusst ist. Unter anderem deshalb verzichten so viele zeitgenössische Künstler vollständig auf realistische oder figurale Darstellungsweisen. Wir können also folgern, und auch Jacqueline Rose führt dies in ihrem Essay aus, dass das Wissen um die Bedingungen (und Konsequenzen) der Geschlechterdifferenz tiefgreifende Folgen für die Kunstproduktion hatte und hat.

Jürgenssens Kunst zeigt somit auffällige Parallelen zu verschiedenen Spielarten des feministischen Denkens, die den Geschlechterunterschied in seinen vielen Darstellungen zu analysieren und vielleicht auch neu zu gestalten versuchten. Jürgenssen war zweifellos mit deutschsprachigen, französischen und englischen Arbeiten von Philosophen und feministischen Theoretikern vertraut und auch mit psychoanalytischen Theorien, mit Semiotik und kritischer Theorie. Aber ihr Werk erinnert uns daran, dass »Theorie« nicht ausschließlich von Philosophen und Akademikern hervorgebracht wird und sich auch nicht auf das geschriebene Wort beschränkt, sondern ebenso durch die Arbeit von Künstlern entsteht. Tatsächlich war der Ausgangspunkt für den Essay von Jacqueline Rose eine Ausstellung von Künstlern und Filmemachern, deren Arbeiten von Feminismus und Psychoanalyse durchdrungen waren: »Eine der Haupttriebkräfte einer Kunst, die sich heute mit der Darstellung des Sexuellen beschäftigt [und versucht], die Festlegung sexueller Identitäten als Fantasie zu entlarven, wird im gleichen Zuge das Bildfeld vor unseren Augen aufwühlen, auflösen oder auseinanderbrechen lassen.« 5

Dieses »Aufwühlen« oder »Auseinanderbrechen« der Darstellung, das Rose mit einer Zeichnung von Leonardo da Vinci veranschaulicht, ist ein wiederkehrendes Merkmal in Jürgenssens Werk. 6 Und wie in Leonardos Zeichnung – eine anatomische Illustration des Sexualaktes – geht es unaufhörlich um den weiblichen Körper als Ort der Begierde und der Angst. Aber während Rose die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten in Leonardos Zeichnung als Manifestation eines im Unbewussten wurzelnden Symptoms interpretiert, ist Jürgenssens OEuvre ein äußerst bewusstes und durchdachtes Unterfangen. Damit soll nicht gesagt sein, dass ihr Werk (wie jede Kunstproduktion) nicht auch unbewussten Mechanismen folgt. Aber es sind vielmehr die durchdringenden Themen der  Weiblichkeit, Sexualität, des Gender und der Subjektivität als Probleme bildlicher Darstellung, die das Terrain ihrer Kunst bilden.

Der Körper in ihrem fotografischen Werk und in ihren Zeichnungen gehört erkennbar Jürgenssen selbst. In dieser Hinsicht kann ihr Werk insgesamt, quer durch alle Medien, als ein Palimpsest verstanden werden, das ihre körperliche Identität erfasst (zu der auch ihre äußere Schönheit gehört), aber ebenso ihre Entwicklung als Künstlerin aufzeigt. Mehr noch, die zentrale Stellung des Körpers in ihrem Werk verzeichnet künstlerisch die Ergebnisse ihrer kritischen Erforschung der weiblichen Erscheinung (und ihrer unzähligen Phantasmen). Man könnte auch sagen, dass Körper oder Bild wie Palimpseste auf die Entwicklung der Subjektivität selbst verweisen, Produkt unbewusster Einschreibungen und Überschreibungen, Verschiebungen und Ersetzungen, so wie auch der sterbliche Körper zunehmend mit den Zeichen und Malen seiner Lebensumstände, seines Alterns, seiner Sterblichkeit überzogen wird. Als Palimpseste verzeichnen diese Schichten wie aufeinanderfolgende Häute historische und künstlerische Veränderungen, die fortwährenden Prozesse der Reflexion, des Überdenkens und Überarbeitens.

Oftmals legt Jürgenssen ihr Werk auch ganz praktisch als Palimpsest an, indem sie Schichten aus Bleistift, Ölkreide, Farbe oder anderen Substanzen übereinanderlegt. Für ihre Körperprojektionen aus dem Jahr 1987/88 verwendete sie Dias eigener Zeichnungen oder fremde Bilder und Objekte. Diese projizierte sie als unbewegte Fotografien auf verschiedene Flächen ihres Körpers (ph71)(ph1730). Die spezifische Materialität der Körperprojektionen führt den Körper als Projektionsstätte und Projektion vor und auch als Ort der kulturellen wie psychischen Einschreibung. In Projektionen von Gefäß- und Vasenformen – allesamt Behältnisse – spielt Jürgenssen auf eine altvertraute Ikonografie der Weiblichkeit an, die sich den Körper als ein zu füllendes Gefäß vorstellt, genauso wie Amphoren oder Geigen und Celli traditionell mit der erotisierten weiblichen Anatomie verknüpft wurden. Etwa zur gleichen Zeit wie die Körperprojektionen entstanden einige Zeichnungen (beispielsweise Ohne Titel, um 1986, (z323)), die ausdrücklich auf diese traditionelle Analogie verweisen. Aber in den Projektionen wird der Körper selbst zu einer Art Fantasie, vielfältig verzerrt, aufgelöst, verborgen. Er wird formal und technisch dematerialisiert – abgeflacht und abstrahiert dient er vor allem als Projektionsfläche, während einige Bilder auf bestimmte Arten von Einschreibungen und Fantasien anspielen. Diese Auflösung erkennbarer Körperformen ist auch ein bedeutsames Charakteristikum der Farbfotografien, man denke nur an Ohne Titel (1979/80, (ph851-862), (ph840-850, ph863)), die Badewasserfotos (1980) oder die Serie Ölbad (1995). Es entsprach Jürgenssens Ablehnung biologischer und soziokultureller Geschlechterfestschreibungen, dass sie sich für Körperprojektionen ein Dia auf ihren Rücken projizieren ließ, das den schattenhaften Umriss eines brilletragenden Mannes zeigt, zwischen dessen leicht gespreizten Beinen ein kleines Dreieck zu erkennen ist, das an die Form einer Vagina erinnert.

In ähnlicher Weise demonstrieren Arbeiten, in denen der weibliche Körper mit Texten bedeckt oder überschrieben wurde, dass er ungeachtet seiner Körperlichkeit und seiner physischen Materialität untrennbar mit Sprache, Kultur und Ideologie verknüpft ist. In Histoire Naturelle / Naturgeschichte (Kat. 138), einer Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Jahr 1979, werden diese Einschreibungen erneut körperlich inszeniert und aufgeführt. Jürgenssen setzt hier eine der zentralen Lehren feministischer Theorie in Szene, nämlich, dass der Körper selbst in metaphorischer und diskursiver Hinsicht als Text aufgefasst werden kann: Er ist etwas Schriftliches. 7

»Naturgeschichte« ist ein häufig verwendeter Titel bei Jürgenssen. Seine Ironie ist offensichtlich: Der Anspruch auf Meisterschaft und umfassendes Wissen, der sich in den mit der Aufklärung in Gang gesetzten (und immer noch andauernden) wissenschaftlichen Diskursen niederschlug, wurde aufs Schärfste hinterfragt. Wie Jürgenssen zweifellos bekannt war, hat die feministische Kritik in ihrer Betrachtung der vermeintlichen Neutralität und Objektivität des wissenschaftlichen Diskurses die historischen Bedingungen von »Objektivität« ebenso offengelegt wie die patriarchalischen Hirngespinste eines allumfassenden Wissens. 8 Ihre Zeichnungen von Skeletten kleiner Tiere (Kat. 188–190), mitunter hybride Fantasiewesen, ließen sich auf jene feministische Kritik der Wissenschaft (und Wissenschaftlichkeit) beziehen, in der sich Wissen auf tote Materie stützt oder sogar im Dienste dieses Wissens getötet wird. 9

Aber die Naturgeschichte in Jürgenssens Kunst ist auch noch anders motiviert, nämlich durch die Faszination der Künstlerin für lebende Tiere. Dies drückt sich in ihren präzise beobachteten Gestaltungen des Tierlebens (Vögel, Kaninchen, Schlangen, Mäuse oder Käfer) aus und in ihrer Ablehnung der Dichotomie von Mensch und Tier. Auch hier mag die feministische Kritik ihren Teil beigetragen haben, denn die Dichotomie Mensch/Tier entspricht anderen Zweiteilungen wie Geist/Körper, Leib/ Seele und ist nicht weniger anfällig für eine dekonstruktive Analyse. Jürgenssen hat die ehrwürdige Assoziation von Weiblichkeit und Tierischem noch pointierter als Motiv in einer Vielzahl von Medien erforscht. So sind ihre Fotografien Selbst mit Fellchen (1974, Kat. 45, 46), die Werwolfzeichnungen aus den Jahren 1975 bis 1979 und ihre offensichtliche Faszination für die symbolischen Bedeutungen von Haar und Pelz (Kat. 139, 140) Vorreiter ihrer bemerkenswerten Zeichnungen des Jahres 1978 (Kat. 127–129). Diese Bilder wirken so verstörend, weil Jürgenssen hier die Maus als Symbol und Metonymie für die weiblichen Geschlechtsorgane verwendet, ein Motiv, auf das ich noch zurückkommen werde.

Dass es sich bei dem Körper oder seinen Teilen fast immer um Jürgenssens eigenen Körper handelt, ist durchaus nicht beispiellos. Obwohl solche Darstellungen vor dem 20. Jahrhundert rar waren, besitzt eine derartige Praxis eine – wenn auch spärliche – kunsthistorische Ahnenreihe. Zu diesen Vorläufern gehören Albrecht Dürers Zeichnungen seines nackten Körpers, die offenkundig wenig mit der »öffentlichen« Person und sozialen Identität zu tun haben, um die es für gewöhnlich in künstlerischen Selbstporträts geht. Diese spezielle Form der Selbstdarstellung ist eine verkörperte Selbstdarstellung. Als solche zeigt sie die Beziehungen zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, zwischen Subjektivität und Sterblichkeit, zwischen Sehen und Gesehenwerden. Verkörperte Selbstdarstellung handelt vom Leben in einem spezifischen, nicht irgendeinem Körper. Dieser Körper existiert objektiv wahrnehmbar in einer Welt anderer Körper und Objekte, aber sein Bewusstsein – das»Ich«, das Selbst – deckt sich nie völlig mit seiner sterblichen Materie oder seinem physischen Zustand. 10

Weder bewohnt man seinen eigenen Körper nur, noch ist man mit ihm identisch. Diese Erkenntnis trieb ab den späten 1960er-Jahren die Performances von Frauen (und einigen Männern) an, beruhte aber auf ganz anderen Grundlagen als die Performances der Aktionisten – Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler, Günter Brus, Otto Muehl und andere –, die Wiener Künstlern natürlich wohlbekannt waren. Aber Jürgenssen könnte, ganz ähnlich wie Valie Export und andere Performancekünstlerinnen ihrer Zeit, im Einsatz des Körpers und in den Bedeutungen ihrer Kunstpraxis der Hysterie, Selbstinszenierung und dem Masochismus der Aktionismus nicht fremder sein. Überdies kann man den Einsatz des nackten Körpers, genauso wie die Aneignung der expressionistischen Rhetorik, als einen Akt der (Selbst-)Aneignung auffassen, in dem der Körper als Werkzeug oder Medium dient. Er bestätigt also weder eine Vorstellung von dem »realen« oder eigentlichen Körper noch eine körperliche »Wahrheit« unter der Oberfläche. Bezeichnenderweise war Jürgenssen nicht nur über Performancekünstlerinnen in ihrem Wiener Umfeld informiert, sie unterhielt auch Freundschaften zu einigen von ihnen und arbeitete ab und an mit ihnen zusammen – besonders zu erwähnen ist ihre Beteiligung an einer feministischenGruppe, die sich mit trockenem Humor DIE DAMEN nannte. 11

Eine von Jürgenssens boshaft-amüsanten Zeichnungen aus dem Jahr 1975 zeigt eine Gruppe von Hausfrauen, die mit winzig kleinen Männergestalten den Boden wischt und schrubbt (z402). Diese Szene stellten DIE DAMEN 1990 für die Kamera nach. Entgegen dem misogynen Glauben, »Feministinnen haben keinen Humor«, gehören Spott, Satire und Parodie ebenso zum Arsenal feministischer Kritik wie »die revolutionäre Kraft des weiblichen Lachens«. 12 Aber mit Blick darauf, dass sich Jürgenssen ihre gesamte Laufbahn hindurch selbst zum Motiv oder Modell nahm, könnte man einen Großteil ihrer fotografischen Serien wohl auch als Performance ohne Betrachter umschreiben. 13 In einem Interview äußerte sie sich einmal dahingehend, dass es nur ihre eigene Schüchternheit gewesen sei, die sie von jenen öffentlichen Performances abhielt, mit denen man Performancekünstlerinnen in Europa und den USA assoziiert.

Sobald es um die Künstlerin und ihre Selbstdarstellung geht, egal in welcher Epoche, unterscheiden sich die Probleme, die Bedeutungen, das Interesse an dem Motiv des körperlichen Selbst von jenen des vermeintlich Allgemeingültigen. Unnötig, darauf hinzuweisen, dass es keine vitruvianische Frau gibt. Aber es gab auch nur wenige Künstlerinnen – wenn überhaupt –, die es vor dem 20. Jahrhundert unternommen hätten, ihren eigenen unbekleideten Körper darzustellen; wie bereits ausgeführt, war dies den Selbstdarstellungen der Künstler vorbehalten. Dass Künstlerinnen wie Jürgenssen in den 1970er-Jahren ihren eigenen Körper in ihrer Kunst zeigten, sollte nicht nur als künstlerische, sondern auch als politische Handlung anerkannt werden, eine Handlung, die nicht von dem wiederauflebenden Feminismus und dessen Versuchen, den»wahren«weiblichen Körper von seiner bildlichen und soziokulturellen Kolonisierung zurückzuerobern, zu trennen war. In dieser Hinsicht unterlag die neue Darstellung des nackten weiblichen Körpers sofort einigen Bedingungen, die sie von den idealisierten und reifizierten Konventionen des traditionellen künstlerischen Aktes unterschied. Doch diese Verfahren waren nicht notwendigerweise dem Realismus verpflichtet – wie auch immer man diesen definieren wollte – und ebenso auf die in den Massenmedien verbreitete fetischisierte Weiblichkeit gerichtet. Jürgenssens Kunst reflektiert diese beiden Schwerpunkte und beinhaltet neben bildlichen Darstellungen der ersten Kategorie, zum Beispiel Jean-Léon Gérômes Pygmalion (ph1470), auch solche der zweiten. Es war charakteristisch für Jürgenssen, dass sie auf viele verschiedene Quellen zugriff, beispielsweise europäische und asiatische pornografische Grafiken, kitschige Aktdarstellungen des Fin de Siècle (Le Jardin, 1975, (z174)) oder vorgefundene Schnappschüsse. In ihren vielen Erscheinungsformen steht die Darstellung oder Inszenierung des »wahren« weiblichen Körpers, insbesondere bei den Künstlerinnen der 1970er-Jahre, für eine Rückkehr des Verdrängten, denn es sollte nicht unterschätzt werden, welche Macht das Tabu weiblicher Geschlechtsteile in den darstellenden Künsten hatte. Etwas allgemeiner formuliert kann man sagen, dass die körperlichen, leiblichen Gegebenheiten der weiblichen Gestalt – gekennzeichnet durch biologisches und soziokulturelles Geschlecht – innerhalb der elitären Bildkultur offiziell ausgeblendet worden waren, sie lagen weit jenseits der Grenzen erlaubter Darstellung. Daher sollten wir die verschiedenen Erforschungen des weiblichen Körpers – innerhalb der Kunst regelmäßig idealisiert und fetischisiert und außerhalb so oft gedemütigt – im Bestreben der Künstlerinnen, dieses Terrain zurückzuerobern, als dem Wesen nach politisch verstehen.

Bildelemente, die auf Schamlippen, die Vulva oder Vagina hindeuten, finden sich überall in Jürgenssens OEuvre. In den 1970er-Jahren waren dies durchaus gängige Motive in der weiblichen Kunst und doch können sie selbst 40 Jahre später immer noch Unbehagen auslösen. 14 Aus der Sicht feministischer Kunstkritik bleibt eine solche Bildsprache fragwürdig. Auch in der englischsprachigen feministischen Theorie gibt es im Rahmen allgemeiner Ausführungen zum Essentialismus eine überzeugende Kritik an solchen Repräsentationsstrategien. Hierfür gibt es gute Gründe und die Kontroversen und Argumentationen rund um den Gebrauch einer solchen Bildsprache sind vielschichtig. Ich stimme mit dieser Argumentationslinie im Großen und Ganzen überein, aber wie bei dem Problem der »Göttin« in Nancy Speros Kunst oder den Voodoo-Darstellungen in Ana MendietasWerk ist man keineswegs gezwungen, künstlerische Intentionen als bestimmendes oder interpretatorisch letztesWort hinzunehmen.Dies gesagt, bleibt es eine Tatsache der Kunstgeschichte, dass über weite Strecken der 1970er-Jahre Künstler – von Meret Oppenheim bis Louise Bourgeois – verschiedene Formen vaginaler Ikonografie auf einfallsreiche Art und Weise einsetzten. Im Kontext dieses Essays allerdings sind es Jürgenssens auffällig eigenwillige Variationen über die biologischen Besonderheiten des weiblichen Körpers, die zur Debatte stehen. Bemerkenswert sind zum Beispiel Arbeiten aus den 1970er-Jahren, die in provokativer Weise auf die Menstruation anspielen, etwa die fantastische Demenstration aus dem Jahr 1978/79 (z408). Mit einer Höhe von 113 Zentimetern zählt es zu den großformatigen Werken von Jürgenssen. In seinem Zentrum befindet sich auf einem Baumwollbett ein an die weibliche Scham erinnerndes, mit einzelnen Rosendornen gespicktes Dreieck, das auf einem mit Gaze bedeckten und mit roter Farbe bespritzten Untergrund liegt. Ein anderes Werk aus dem gleichen Zeitraum, Ehren-Rede Vito dem heiligen Blutzeugen (s38), zeigt einen blutroten Fleck auf einer Gazebandage, die über einem Spitzenstoff liegt, der an einem Buch gleichen Titels aus dem Jahr 1747 festgemacht ist. Unter dem Mull ragt ein geschnitzter Holzfinger mit einem angemalten roten Fingernagel hervor. Während die Wunde und der Finger glaubhafte Anspielungen an eine tatsächliche Verletzung sind, die Jürgenssen im selben Jahr erlitt, muss dies den Verweis auf die Monatsblutung nicht ausschließen.

Allerdings war Jürgenssen, auch wenn sie im realistischsten aller Medien (der Fotografie) oder stilistisch höchst realistisch arbeitete, niemals Realistin. Obwohl in ihrem Werk eine Fülle vaginaler Darstellungen erscheinen, begegnet man, sozusagen, nirgendwo einer Vagina, jedenfalls nicht im Sinne einer anatomischen Beschreibung. Sehr wohl begegnet man einer syntagmatischen Kette von Äquivalenten, Ersetzungen, Verlagerungen, Metaphern, analogen Formen und Symbolen, die unter den verschiedenen Serien und Medien kursieren: riesige Akanthusblätter vor Jürgenssens Becken (Ohne Titel, 1988) , abstrahierte vaginale Formen im Triptychon Angel’s Radiance: Moon in the Sky: Burning Torch (1987), sogar eine schematische Aquarellmalerei mit vaginalen Metamorphosen (Ohne Titel, 1981, (z747)). Daher die Maus. Klein, schnell, verstohlen, scheu – in der stereotypen Vorstellung hält die Maus die Frau in Schrecken, aber in Jürgenssens sexuellem Bestiarium ersetzt sie oft die Vagina. In einer verstörenden Farbstiftzeichnung aus dem Jahr 1979 scheint die Maus aus dem Inneren einer gehäuteten Katze hervorzustoßen, aus einem Nest aus Schamhaar (z900), oder sie wird in der gleichen Serie zu einer hybriden Maus-Scheide, die Haar, Pelz und gerötetes Inneres vereint und sich in ein jungfräuliches Bett oder aus diesem hinaus wühlt (z891). Scheiden-Mäuse nisten in Büchern oder Notizbüchern (Ohne Titel, 1980, (z225)). Schwarzhaarige Schamdreiecke sprießen zwischen gespreizten Fingern, wie in Mrs. Churchill (1976, (z716) ), leuchtende Besen-/Vaginaformen wachsen aus einem haarigen Mantel oder dessen haarigem Ausschnitt hervor, wie in Strassenkehrer in Begleitung (1980, (z224)). So wie die Vagina in Achselfältchen vom Becken zur Achselhöhle wandert, können Vaginen auch imerigierten Schaft eines Penis erscheinen. In einer ihrer außergewöhnlichsten großformatigen Zeichnungen, Ohne Titel (Brautkleid, 1979/80,  (z887) ), spaltet die Scheidenöffnung die klippenartige Erektion, von der ein schäumender Wasser- oder Sperma-Schleier herabfließt. Aus einer zweiten Öffnung, an der Wurzel, ergießt sich noch mehr Flüssigkeit in einen Teich mit orangenen Fischen, auf dessen Oberfläche haarähnliche Kringel zu sehen sind. Links von der Wurzel des Phallus sprießt eine zungenförmige Wucherung. Von diesem aufstrebenden Monument springen winzige Frauen in Badeanzügen kopfüber herab, ohne je den Boden zu erreichen.

Was möchte uns ein solches Bild sagen? Oder auch dessen Titel, Brautkleid? Mit feinen blassblauen und -grünen Lavierungen und mit zarten Spuren von rosarot versehen, mit feinem Schaum oder einer Gischt, die wie zarte Spitze mit weißer Deckfarbe angedeutet wird, ist Brautkleid zugleich humorvoll, unheimlich, grotesk und provoziert die unangenehme Vorstellung der Vagina als Wunde –möglicherweise eine Anspielung auf die Entjungferung. Männlich und weiblich zugleich, phallisch und vaginal, bildet es die Unbeständigkeit und Veränderlichkeit der Geschlechterdifferenz ab. In einem weiteren Werk der gleichen Serie kommt Jürgenssen zu einer Gestaltung, die noch mehr Interpretationsspielraum lässt (z888). Wir sind überzeugt, die Öffnung einer Vagina zu sehen, aber sie ist in einen aufragenden, vertikalen Phallus eingelassen. Dieser erwächst aus wieder einem anderen Spalt, dessen Umfeld so schraffiert und gezeichnet wurde, dass der Eindruck einer anderen Oberflächentextur entsteht. Mit dem gestutzten Fortsatz auf der rechten Seite ähnelt die Zeichnung einer anatomischen Studie der präfotografischen Ära, aber eine, die sich aus unharmonischen Formelementen zusammensetzt. Ist diese netzartige Oberfläche die Spitze des Brautkleides? Ein seziertes Organ? Eine Hommage an Zeichner des sexuell Grotesken wie Hans Bellmer oder Felicien Rops?

Diese unlösbaren Fragen bilden den Stoff für Jürgenssens Werk, dessen Bedeutungen und Ikonografie mal persönlich,mal kunsthistorisch, hybride und heterogen sind – und sich wie jede Kunst aus den Sphären des Sozialen, Biografischen,Kulturellen und Psychischen speisen. Was die künstlerische Bedeutung dieses OEuvre ausmacht, unterscheidet sich nicht von dem, was ganz allgemein gesprochen auch andere bedeutende Werke auszeichnet, nämlich seine Intelligenz, sein Einfallsreichtum, seine Fähigkeit zu überraschen, mitzudenken, Freude zu schenken und Aufmerksamkeit zu fesseln. Seine politischen, also feministischen Implikationen sind unlösbar mit diesen Eigenschaften verbunden, aber ihnen kommt nicht die Funktion einer Botschaft, einer Belehrung und noch weniger einer polemischen Feststellung zu. Ganz grundsätzlich widersteht Jürgenssen dem Wunsch des Betrachters, dass Bedeutung vollständig erkennbar, festgelegt und bestimmt sein solle. Das verstörende und beunruhigende Potenzial ihrer Kunst ist voll und ganz Teil dieser Verweigerung und macht die Kraft ihrer Kunst aus. Das scheint Roland Barthes gemeint zu haben, als er vom »Schrecken der ungewissen Zeichen« sprach. Dass Jürgenssen diesen Schrecken riskiert, ihn sogar bewusst provoziert –wenn auch gelegentlich mit scharfsinnigem und satirischem Witz aufgelockert –, verweist auf die Komplexität und den Ethos einer Kunst, die von denWurzeln bis in ihre entlegensten Ausläufer von den Aporien der Geschlechterdifferenz durchdrungen ist.

1) Vgl. Sigmund Freud:»Die Ichspaltung im Abwehrvorgang«, in: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 17: Schriften aus dem Nachlass, 7. Aufl. (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1983).
2) Jacqueline Lichtenstein: The Eloquence of Color. Rhetoric and Painting in the French Classical Age (Berkeley: University of California Press, 1993).
3) Régis Michel: Ausst.-Kat. Le beau idéal (Paris: Musée du Louvre, 1983); Carol Ockman: Ingres’ Eroticized Bodies. Retracing the Serpentine Line (New Haven: Yale University Press, 1995); Mechthild Fend: Grenzen der Männlichkeit. Der Androgyn in der französischen Kunst und Kunsttheorie zwischen Aufklärung und Restauration (Berlin: Reimer, 2003), v. a. S. 9, 34–47; dies.: Bodily and Pictorial Surfaces. Skin in French Art and Medicine, 1790–1860, in: Art History, 28, 2005, S. 311–339.
4) Jacqueline Rose: »Sexuality in the Field of Vision«, in: dies.: Sexuality in the Field of Vision (London: Verso, 1986), S. 227–228.
5) Ebd., S. 228. Die Ausstellung 1986 im New Museum in New York City trug den Titel Difference. Representation and Sexuality. 
6) Interessanterweise erstellte Jürgenssen 1984 einige Fotografien von ihrer verletzten Hand auf Reproduktionen von Leonardos anatomischen Zeichnungen sezierter Hände.
7) Entsprechende Ausführungen finden sich in den Texten des französischen Feminismus, sind aber inzwischen in der Mitte feministischer Philosophie und Literaturtheorie angekommen und werden meist mit den Arbeiten von Helene Cixious und Luce Irigaray in Verbindung gebracht. Es handelt sich hier um ein oft gebrauchtes Bild innerhalb der feministischen Theorie, Literatur und Dichtung der 1970er-Jahre und in der Literaturwissenschaft. Vgl. Sandra Gilbert, Susan Gubar: The Madwoman in the Attic (New Haven: Yale University Press, 1979). Eine Auswahl relevanter Texte umfasst: Hélène Cixious: Coming to Writing and Other Essays, hrsg. von Deborah Jenson (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1991); dies.: The Hélène Cxious Reader, hrsg. von Susan Sellers (New York: Routledge, 1994); Luce Irigaray: The Irigaray Reader, hrsg. von Margaret Whitford (Cambridge, Mass.: Basil Blackwell, 1991); Elaine Marks, Isabelle de Courtivron: New French Feminisms. An Anthology (London: Harvester Wheatsheaf, 1981); Susan Sellers: Language and Sexual Difference. Feminist Writing in France (Houndmills u. a.: Macmillan, 1991); Toril Moi: Sexual/Textual Politics. Feminist Literary Theory (London: Routledge, 2002); Morag Shiach: Hélène Cxious. A Politics of Writing (New York, London: Routledge, 1991); Christine Delphy: »The Invention of French Feminism. An Essential Move«, in: Yale French Studies, 62, 1981, S. 135–153; dies.: »Writing the Body: Toward an Understanding of l’écriture féminine«, in: Feminist Studies, 7, 2001.
8) Es handelt sich hier um ein oft gebrauchtes Bild innerhalb der feministischen Theorie, Literatur undDichtung der 1970er- Jahre und in der Literaturwissenschaft. Vgl. Sandra Gilbert, Susan Gubar: The Madwoman in the Attic (NewHaven, 1979).
9) Vgl. Lorraine Dalston, Peter Galison: Objectivity (New York: Zone Books, 2007); Sandra Harding: The Science Question in Feminism (Ithaca: Cornell University Press, 1986); dies.: Whose Science? Whose Knowledge? (Ithaca: Cornell University Press, 1991); Evelyn Fox Keller, Helen Longino (Hrsg.): Feminism and Science (Oxford / New York: Oxford University Press, 1996).
10) Donna Haraway: »A Manifesto for Cyborgs«, in: dies.: Simians, Cyborgs, and Women (New York: Routledge, 1989); dies.: Primate Visions (New York: Routledge, 1991).
11) Die Bibliografie (in Englisch, Französisch und Deutsch) zu diesen Fragen ist ausgesprochen umfangreich. Die Autorin stützt sich hier besonders auf die Schriften von Elizabeth Grosz, v. a. Volatile Bodies. Towards a Theory of Corporeal Feminism (Bloomington: Indiana University Press, 1994).
12) Vgl. Carola Dertnig, Stefanie Seibold (Hrsg.): Ausst.-Kat. let’s twist again.Was man nicht denken kann, das soll man tanzen. Performance inWien von 1960 bis heute (Gumpoldskirchen/Wien: D.E.A. 2006).
13) Bspw. Jo Anna Isaak: Feminism and Contemporary Art. The Revolutionary Power of Women’s Laughter (London: Routledge, 1996).
14) Das scheint auch auf die Fotografien von Claude Cahun (und ihrer Lebensgefährtin Suzanne Malherbes) zuzutreffen, vgl. Abigail Solomon-Godeau: »The Equivocal ›I‹. Claude Cahun as Lesbian Subject«, in: Shelley Rice (Hrsg.): Inverted Odysseys. Claude Cahun, Maya Deren, Cindy Sherman (Cambridge: The MIT Press, 1999).

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