Das Zimmer der Dame
1 "Abwesenheit liegt in der Mitte zwischen Zeit und Raum"
(John Berger, Das Kunstwerk. Der Ort der Malerei. 1982)
Eine zentrale Faszination jedes Bildes liegt genau in dieser Formulierung von Abwesenheit zwischen Zeit und Raum. Das Bild - heute - ist nach wie vor eine Brücke zwischen diesen beiden Erfahrungskategorien, auch wenn sich die Ansicht von Zeit und Raum als physikalische Einheiten immer mehr zu sich gegenseitig bedingenden, fließenden Entitäten hin bewegt. Das Bild ermöglicht eine Gleichzeitigkeit von Überlagerungen, das Bild ermöglicht aber auch eine Gleichräumlichkeit von Abläufen.
In ihren jüngsten Arbeiten (ph742), (ph743) spürt Birgit Jürgenssen - unter anderem - genau dieser speziellen Faszination des Bildes nach. Sie formuliert - im Bild - Innenräume, die sich mit Oberflächenformen des menschlichen Körpers verbinden. Sie gestaltet aber auch eine Gleichzeitigkeit verschiedener Körpersituationen, ausschnitthafte Fragmente verschiedener Anblicke.
Der Umgebungsinnenraum wird - nicht nur im übertragenen Sinne - zum Spiegelbild seines Benützers bzw. Gestalters, sondern er fließt gleichsam zu einem großen umfassenden Spiegelbild zusammen. Raum und Körper treffen sich auf der Fläche des (Spiegel)Bildes. Stets handelt es sich bei diesen Bildwerken der Künstlerin um Darstellungen eines Innenraumes, der absolut in sich abgeschlossen wirkt und keinen Ausblick nach außen in die Welt außerhalb dieser Innenraumsituation in sich trägt (vgl. hierzu die Bemerkung von Adolf Loos: "Ein kultivierter Mann schaut nicht aus dem Fenster. Sein Fenster ist aus blindem Glas. Es ist nur hier um Licht herein zu lassen, nicht um hinaus zu schauen.")
Der (Ab)Geschlossenheit des Innenraumes ist die äußere Grenze des menschlichen Körpers eingeschrieben. Rauminnen und Körperaußen treffen sich, sie verschmelzen ineinander und bestimmen eine flächenbildhafte Bezeichnung.
Bewußt nicht extra betont wurde bisher die zentrale Feststellung, daß es sich bei diesen Bildwerken des Künstlerin um explizite Bildbestimmungen des Weiblichen handelt: Alle geschilderten Körperansichten sind sofort Frauenkörpern zuordenbar, die wiederum alle Raumsituationen im Sinne des Weiblichen definieren: nicht des biologisch Weiblichen, sondern des kulturellen Weiblichen.
Die Zivilisationsgeschichte der Geschlechter schuf eine lange Kette von Zuordnungen, von Aufgabenteilungen und Machtteilungen, die entsprechend tiefgreifend über Generationen und Generationen Formen und Funktionen geschlechtlicher Existenz fest- und eingeschrieben haben. Diese geschlechtliche Zuordnung bezieht sich nicht allein auf körpernahe Sozialformen, wie Körperhaltung, Körpergestaltung, Körperbedeckung und Körperaccessoires, sondern inkludiert auch in besonderer Weise den diese Körper umgebenden Raum, dessen Strukturen sich wie Leitbilder - vorbildhaft - vermitteln.
Birgit Jürgenssen gestaltet in diesen Bildwerken genau dieses sich gegenseitige Aufprojizieren von Körper und Raum in Orientierung an geschlechtlichen Polaritäten. Die Künstlerin führt so eine aktuelle "gender"-Diskussion über die ausschließliche Erörterung der körpernahen Formierungen zu Fragen der Struktur des Umgebungsraumes. Ihre Auseinandersetzung mit archetypischen Zuordnungen greift hier weit aus und bewegt sich sehr bewußt "im Raum", vermittelt also einen bildhaft formulierten "Erfahrungsraum" anstelle einfacher, linearer Entsprechungen.
Dieser Erfahrungsraum wird wie in einem Spiegel zusammengefaßt. - Das Bildwerk der Künstlerin stellt jedoch nicht ausschließlich einen großen Spiegel vor, sondern ist aufgebaut aus einem genau kalkulierten Mosaik von Spiegelsequenzen. mehr
2 "Der Moment, da der Fotograf aufhört, in den reflektierenden Spiegel (sei er real oder imaginär) zu schauen, ist der Moment, der sein Bild charakterisieren wird."
(Vilem Flusser, Kleine Philosophie der fotografischen Geste. 1985/1991)
Für das künstlerische Werk von Birgit Jürgenssen ist das Wahrnehmungs- wie Gestaltungselement des Spiegelns in Zusammenhang mit Fotografie ein zentraler Aspekt ihres Kunstwollens. Im Sinne der Spiegelwahrnehmung können sowohl der eigene Körper, eine entsprechende Perspektive auf den Umgebungsraum und seine darin befindlichen (angeordneten) Objekte direkt - aktiv - zu einem Bildeindruck zusammengefaßt werden. Der Spiegel überwindet Distanzen und Dimensionen, der Spiegel ermöglicht auch eine direkte Erfahrung von persönlichen Spuren - ein weiterer für das künstlerische Werk von Birgit Jürgenssen absolut wesentlicher Begriffsaspekt.
Diese Spuren im "Zimmer einer Dame" setzt die Künstlerin in eine subtile Balance zwischen Individualität und sozialhistorischer Determinierung - ein Spannungsfeld, das prinzipiell auf jede Kunst zutrifft, hier jedoch explizit angesprochen und zu einem genuinen Teil des Gestaltungskonzeptes verarbeitet wurde.
Birgit Jürgenssen zählt zu jenen Künstlerpersönlichkeiten, die sehr pointiert die Erscheinungsformen und den Spielraum des Persönlichen, des Individuellen, auf den jeweiligen Rahmen kultureller Bestimmungen hin überprüft. Immer wieder ertappt sich der Betrachter dabei, das zunächst als persönlich Empfundene als sozial vermittelten Kontext erkennen zu müssen/können.
Gerade das Bildwerk in seiner Hinwendung zum Abwesenden (und noch in seiner Spur Vorhandenen) wird in dieser absoluten Hinwendung zum Abwesenden (und doch in seiner Spur Vorhandenen) wird in dieser absoluten Hinwendung zur künstlerischen Erfragung der kulturellen Tradition zu einer besonderen Erfahrungsgröße des Überpersönlichen. Das abwesend Geglaubte wirkt um so nachhaltiger und massiver anwesend.
Die Bilder des "Zimmers der Dame" sind solchermaßen "Visitenkarten" für unendlich Viele und dennoch für jede(n) persönlich.
Das "Zimmer der Dame" ist aber auch subtiles Beispiel der bildhaften Annäherung an erotische Ahnungen - ebenfalls im Sinne einer körperlichen Aura im Raum.