Rainer Unruh
Bremen. Birgit Jürgenssen. Ich bin. Weserburg 08.05.–4.10.2020
Kunstforum International 269 (Aug.–Sept. 2020)

Auf einer schwarzen Tafel steht „Ich bin“, geschrieben mit weißer Kreide, daneben ein Schwamm. Alles montiert auf einer Holzplatte und von Acrylglas überwölbt. Das Werk ist leicht zu übersehen. Es misst nur 30 mal 25 mal 3 cm. Trotzdem wurde diese Arbeit von 1995 für den Titel der Ausstellung ausgewählt. In ihr findet die Haltung von Birgit Jürgenssen (1949–2003) einen prägnanten Ausdruck: Sie vergewissert sich ihres Daseins im symbolischen Universum der Kunst, vermeidet aber jede Fixierung und erkennt das Ephemere der Existenz an, die jederzweit wieder gelöscht werden kann.

Für Frauen war in der Kunst lange Zeit kein Platz. Die siebziger Jahre, in denen Jürgenssen ihre ersten Ausstellungen in Wien hatte, waren eine Zeit der Kämpfe. Selbst ein Rebell wir Arnulf Rainer, dessen Meisterklasse seine Künstlerkollegin später unterrichtete, behauptete in jener Zeit, Frauen könnten nicht malen. Birgit Jürgenssen ließ sich nicht entmutigen. Sie verfolgte ein doppeltes Ziel. Einerseits die künstlerische Erforschung der Verhältnisse, die in einer patriarchalischen Gesellschaft die Frau unterdrücken. Und andererseits die von viel Fantasie befeuerte Erkundung der Möglichkeiten, ein neues Bild der Frau zu schaffen, wie man es in der Kunst bislang noch nicht gesehen hatte. mehr

Mehr als 200 Werke sind in der Weserburg in Bremen zu sehen, der zweiten Station der Ausstellung in Deutschland nach der Kunsthalle Tübingen. In den frühen Arbeiten aus den Siebzigern zeigt sich deutlich der Einfluss des französischen Surrealismus. „Ohne Titel (The Party)“ (1973) heißt eine auffällige Bleistiftzeichnung. In ihr verschmelzen Mann und Frau mit den Möbeln im Raum, ihre Extremitäten ersetzen die Beine zweiter Stühle. Die Körper sind bis auf zwei kleine Reste verschwunden. Nähe, Vertrautheit, Zärtlichkeit – in dieser Konstellation undenkbar.

Außer der Zeichnung ist die Fotografie für Birgit Jürgenssen ein wichtiges Medium. „Hausfrauen-Küchenschürze“ (1975) zählt zu ihren bekanntesten Arbeiten. Die Künstlerin posiert mit dem Modell eines Herds vor dem Bauch, einmal von vorn und einmal von der Seite, so wie man es von Aufnahmen für eine Verbrecherkartei kennt. Sie setzt auf Aufklärung durch Witz und Ironie. Die Provokation der Öffentlichkeit hat sie nie angestrebt, anders als feministische Künstlerinnen wie Lynda Benglis oder Valie Export, mit denen Jürgenssen gemeinsam auf der legendären Ausstellung „DONNA. Avanguardia femminista negli anni´70“ (Rom 2010) vertreten war.

„Be really creative and refuse your role“, hat die Künstlerin in einem ihrer mehr als 80 erhaltenen Notizbücher notiert. Kein leeres Versprechen. Zwischen all den figurativen Darstellungen stößt man in der Ausstellung plötzlich auf ein abstrakt anmutendes Gemälde. Farbe in unterschiedlichen Rottönen ist in Löschpapier eingedrungen und hat sich fleckenartig ausgebreitet. Das Wort „Demenstration“ erstreckt sich in grauen Versalien über den Bildträger. Eine Gaze-Vagina mit echten Dornen zieht den Blick auf sich. In der Eucharistie wird das Blut Jesu, dem die Dornenkrone aufgesetzt wurde, zum Wein. In der Kunst von Birgit Jürgenssen wird das imaginierte Blut der Frau zur Kunst. Welches Wunder größer ist, lässt sich objektiv nicht entscheiden. „Jeder hat seine eigene Ansicht“ proklamiert die Künstlerin in einer Fotoarbeit von 1975, in der sie ihren nackten Rücken präsentiert, auf dem dieser Satz protokolliert wurde.

Ein wichtiger Strang im Werk von Jürgenssen ist die Umdeutung von männlich konnotierten Themen der Kunstgeschichte. Mit dem großformatigen Bild „Ohne Titel“ (1983) erobert die Künstlerin nicht nur die von Männern dominierte Malerei für sich, sondern sie befreit Edvard Munchs „Der Schrei“ auch von der Beschränkung auf den Mann als Zentrum bildnerischen Geschehens; in der Variante der Wiener Künstlerin, die von der Farbigkeit an Maria Lassnig erinnert, ist die vom Schrecken erfasste Person keinem Geschlecht zuzuordnen. Auch die Art, wie Jürgenssen sich dem Fetischismus nähert, dem ein eigener Raum in Bremen gewidmet ist, ist voller Ambivalenzen. Die Schuhobjekte, die in fünf Vitrinen zur Schau gestellt werden, bestehen aus den Unterkiefern von Tieren oder aus den Federn von Vögeln. An der Wand hängen Fotografien. Man sieht die Künstlerin digital verfremdet mit Tiermaske. Hier deuten sich Bezüge zu Louise Bourgeois und Meret Oppenheim an, beides von Jürgenssen geschätzte Vorläuferinnen.

Im gesamten Werk der Wiener Künstlerin ist eine Tendenz zur Aufhebung und Verflüssigung von Kategorien erkennbar. Das betrifft auch ihr Verhältnis zur Natur. Sie setzt der biologischen Evolution eine poetische Schöpfungsgeschichte entgegen und lässt Bäume aus der Hand einer Frau wachsen. Wahrscheinlich wären wir heute alle besser dran, wenn diese Fiktion wahr wäre.

Back to top