Annette Raschner
Wir sind nicht der Nabel der Welt, aber ein Fenster in die Welt!

Eine weit über die Grenzen Vorarlbergs hinaus erfolgreiche Einrichtung feiert einen runden Geburtstag unter dem Motto „da schauen sie!". Das Motto erzählt viel vom Geist des Hauses, in dem ein Team von rund zwanzig Kulturvermittlerinnen tagtäglich mit dem Publikum in Beziehung tritt, ein heterogenes Team von Frauen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen, das sich unter der Leitung von Direktorin Stefania Pitscheider Soraperra intensiv mit immer neuen Themen auseinandersetzt. Denn Frauengeschichte wurde lange vernachlässigt und will neu und aus einem ganzheitlichen Gesichtspunkt erzählt werden.

Vor zwei Jahrzehnten wurde das Frauenmuseum Hittisau als Österreichs erstes Frauenmuseum „geboren" - zum Jubiläum schenkt es sich nun selbst eine große Jubiläumsausstellung zum Thema Geburtskultur. mehr

Denn wie eine Gesellschaft den Start ins Leben gestaltet, sagt viel über sie aus. Die Geburt stellt Weichen für das ganze Leben, ist die Vorarlberger Interessengemeinschaft „Geburtskultur a–z" (von achtsam bis zeitgemäß) überzeugt, die seit nunmehr vier Jahren darum bemüht ist, alle vorhandenen Kompetenzen und Initiativen möglichst zusammenzubringen und optimale Rahmenbedingungen zu erwirken. Mit der Kulturarbeiterin Brigitta Soraperra und der Architektin Anka Dür kuratieren zwei Gründungsmitglieder der IG die Ausstellung im Frauenmuseum. Das Kuratorinnenteam wird von Museumsdirektorin Stefania Pitscheider Soraperra komplettiert.

Auf die vielstimmige, grenzüberschreitende Schau weist seit kurzem auch ein Baukörper hin, der mit Crowdfunding finanziert wurde: Ein Gebärraum aus Lehm für Geburt und alle Sinne. An der Realisierung waren neben Anka Dür maßgeblich Architektin Anna Heringer, Vorarlbergs Lehmkünstler Martin Rauch und die Designerin Sabrina Summer beteiligt, die auch für das Ausstellungsdesign verantwortlich zeichnet. Das Grafikdesign übernahm Nina Sturn.

Beim Gespräch mit Stefania Pitscheider Soraperra, Anka Dür, Brigitta Soraperra, Sabrina Summer und Nina Sturn im Frauenmuseum Hittisau steht das Museum kurz vor seiner Wiedereröffnung nach der Totalschließung wegen Corona. Noch ist nicht ganz klar, wie mit jenen Objekten in der Ausstellung umgegangen werden kann, die zum Berühren oder etwa zum Anziehen gedacht sind. Der Parcours bietet jedenfalls einen umfassenden, multimedialen Themenüberblick über die Hintergründe von Schwangerschaft, Geburt und Eltern werden, und er wurde auch haptisch sehr ansprechend gestaltet.
Stefania Pitscheider Soraperra: Wir haben im Frauenmuseum in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder Eigenproduktionen gemacht, die wichtige Duftmarken hinterlassen und ein markantes Thema aus verschiedensten Blickwinkeln heraus beleuchtet haben. Zum 15-jährigen Bestehen war dies eine Ausstellung über die Frauenalpingeschichte. Die Initialzündung für eine umfassende Schau über die Geburtskultur ist im Gespräch mit Brigitta Soraperra erfolgt. Ich könnte mir eigentlich kein besseres Thema vorstellen, zumal wir auch zahlreiche Objekte dazu in unserer Sammlung haben.

Das Frauenmuseum Hittisau ist im Besitz vieler Sammlungsobjekte, die Geschichten über das Alltagsleben von Frauen erzählen. Alltagsgeschichte = Frauengeschichte, sagt Stefania Pitscheider Soraperra. Genau darüber sei lange wenig bis gar nicht berichtet und geforscht worden. Das Frauenmuseum ist seit seinen Anfängen darum bemüht, Geschichte neu, sprich: ganzheitlich, unter Miteinbeziehung aller Geschlechter zu erzählen. Auch das Thema Geburtskultur sollte nicht vorschnell in die Frauenecke geschoben werden, sagt Kulturarbeiterin Brigitta Soraperra.
Brigitta Soraperra: Es geht uns alle etwas an! Egal, ob wir nun Kinder haben oder nicht. Schließlich sind wir alle geboren worden und haben mindestens eine Geburt erlebt.

Bevor die Inhalte zu dieser Ausstellung definiert wurden, hatten die IG Geburtskultur a–z und das Frauenmuseum zahlreiche partizipative Formate auf den Weg gebracht, um Geschichten zum Thema Geburt zu sammeln und zu archivieren. In einer Projektschmiede wurden verschiedene Fachinstitutionen involviert, bei einem Open Space im Kunsthaus Bregenz ist die Bevölkerung animiert worden, ihre Gedanken, Vorstellungen und Ideen einzubringen.
Pitscheider Soraperra: Die Strategie, immer wieder partizipative Formate geltend zu machen, zeichnet sowohl die IG Geburtskultur a–z als auch das Frauenmuseum Hittisau aus. Für die Jubiläumausstellung war es uns von Beginn an wichtig, möglichst viele Stimmen zum Erklingen zu bringen, um das Thema so differenziert und vielseitig wie möglich anzugehen.
Anka Dür: Wir haben schon früher bei den von der IG Geburtskultur a–z initiierten, aus Deutschland stammenden Erzählcafés zum Start ins Leben Geschichten gesammelt und archiviert. Aus diesen Erfahrungen ist auch sehr viel in die Ausstellung eingeflossen.

Die Vorarlberger Bevölkerung hat auch diesmal einen hohen Anteil, sagt Museumsdirektorin Stefania Pitscheider Soraperra. Denn im Fokus stand stets der Mehrklang, die Fülle an Themen und Geschichten, die nun in der Schau zum Tragen kommen. Etwa die Rolle der Väter. Oder auch die Themenkreise Ideologien und Rahmenbedingungen.
Soraperra: Letztere sind in Vorarlberg nach wie vor schwierig. Ein zunehmender Hebammenmangel und nicht vorhandene Wahlmöglichkeiten sind zwei Problemfelder, auch die aktuelle Coronakrise hat Auswirkungen auf die Geburtssituation.

Eine Ausstellung für alle Altersgruppen und alle Sinne
Dür
: Sowohl räumlich als auch inhaltlich haben wir viele Überlegungen hinsichtlich der Ausstellungsgestaltung angestellt, um der Komplexität des Themas gerecht zu werden. Am Beginn steht ein Prolog. Dann starten wir mit der Frauengesundheit. Was bedeutet es, eine Frau sein, und was bringt es mit sich? Dann gehen wir zum Thema Schwangerschaft über. Welche körperlichen und seelischen Veränderungen gehen damit einher? Welche Fragen stellen sich werdende Eltern? Wenn es erlaubt sein sollte, können Besucherinnen und Besucher in einen Anzug schlüpfen, der das zusätzliche Gewicht bei einer Schwangerschaft verdeutlicht oder in einen Schwangerschaftshörkörper eintauchen, in dem Schwangere von ihren Empfindungen und Erlebnissen berichten.
Sabrina Summer: Es war uns sehr wichtig, dass bei jeder Station möglichst alle Sinne angesprochen werden. Deshalb setzen wir viele Medien ein und bieten eine interaktive, multimodulare Ausstellung. Die Besucherinnen und Besucher werden nicht linear durchgeführt, sondern können sich selbst für das eine oder andere Ressort entscheiden. Zwischen den einzelnen Zonen gibt es Sichtlinien. Außerdem wurde die Ausstellung so konzipiert, dass sie verschiedene Altersgruppen anspricht. Sie soll für alle funktionieren!
Nina Sturn: Es gibt einzelne Inseln, die farblich unterschiedlich gestaltet worden sind. Darüber hinaus können sich die Besucherinnen und Besucher mittels interaktiver Karten aktiv einbringen. Überhaupt wurde viel Wert auf eine aktive Teilnahme der Besucher*innen gelegt. Eine modulare Gliederung war jedenfalls von Anfang an wichtig. Da es aber eine wirkliche Fülle von Exponaten gibt und die Gestaltung der Ausstellung sehr lebendig ist, haben wir uns für eine etwas ruhigere grafische Gestaltung entschieden.
Dür: Nach der Schwangerschaft setzen wir uns mit dem Thema Geburt auseinander, um anschließend über das Wochenbett zu informieren. Beim Themenkreis Praxis betrachten wir die Geburtskultur in unserer Gesellschaft. Welche Antworten haben wir auf die Anforderungen, die Schwangerschaft und Geburt mit sich bringen, gefunden? Wir schauen uns die aktuellen Kaiserschnitt-Raten an...
Soraperra: ...und betrachten die Geschichte. Vorarlberg hatte lange ein Alleinstellungsmerkmal hinsichtlich der vielen Entbindungsheime, die es alle nicht mehr gibt.

Kulturelle Aspekte und Wandel der Geburtskultur
Zahlreiche Fotografien und Objekte erzählen vom Wandel der Geburtskultur. Sie sind ebenso vielfältig wie ihre Leih­geber*innen.
Pitscheider Soraperra: Wir haben wirklich viele tolle leihgebende Institutionen, sodass es uns möglich ist, einerseits spannende Fakten und Informationen zu liefern und anderseits den Objekten viel Raum zu geben. Um auch die unterschiedlichen kulturellen Aspekte im Zusammenhang mit Geburt darzulegen, haben wir einen Aufruf an alle Frauenmuseen weltweit gemacht. Auch religiöse Rituale spielen in der Ausstellung eine Rolle. Wie funktioniert eine Beschneidung? Wie eine Taufe? Welche Vorstellungen sind damit verbunden? Man sieht eine Taufgarnitur aus dem späten 19. Jahrhundert ebenso wie Amulette aus Senegal und einen Babyhut aus Laos. Gleichzeitig docken wir immer wieder an die Region an. – Wir sind nicht der Nabel der Welt, aber ein Fenster in die Welt.

Auch aus Vorarlberg stammen zahlreiche Sammlungsstücke, gerade auch aus dem dunkelsten Kapitel unserer Zeit, dem Nationalsozialismus. So wird etwa ein Brief des damaligen Bürgermeisters von Dornbirn, Josef Dreher, gezeigt. Er schreibt an Dornbirner Unternehmen und beschwert sich, dass „deutsche Mütter" mit „Frauen aus dem Osten" nach der Geburt beisammen sein müssen. Auch ein Geburtenheft der Hebamme Josefine Peter ist zu sehen, in dem sie die Geburten in der Zwangsarbeiterinnenbaracke in Hohenems registriert hat.
Soraperra: Die deutsche Mutterideologie steckt uns immer noch in den Genen. Das zeigen wir ebenso auf wie wir etwa aktuelle Entwicklungstendenzen bei der künstlichen Befruchtung hinterfragen. Designerbaby ist ein Stichwort. Wir wollen auch ein Ort des Diskurses sein!

Auch Tabuthemen werden angesprochen, etwa stille Geburt, Schwangerschaftsabbruch oder Leihmutterschaft.
Dür: Denn in einem Frauenmuseum muss es natürlich auch um das Thema Selbstbestimmung gehen.
Soraperra: Geburt hat auch mit Menschenrechten zu tun. Weltweit sterben immer noch Frauen während der Geburt, weil sie keinen Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung haben. Auch das Thema Gewalt in der Geburtshilfe, über das zunehmend gesprochen wird, greifen wir auf. Heute gibt es eine Entwicklung zu einer Ökonomisierung der Geburt, wodurch z. B. in Deutschland Frauen schon dazu gedrängt werden, unter einem gewissen Zeitdruck zu gebären. Auch das ist eine Form von Gewaltausübung.

Vertiefung und Erweiterung durch künstlerische Positionen
Neben Sammlungsstücken von unterschiedlichen Leihgeber*innen sind auch zahlreiche künstlerische Positionen Teil der Jubiläumsausstellung.
Pitscheider Soraperra: Sie reichen von den 1970er Jahren bis heute. Wichtige Künstlerinnen der feministischen Avantgarde wie Renate Bertlmann, die letztes Jahr auf der Biennale von Venedig war, Mary Kelly, Birgit Jürgenssen oder Annegret Soltau sind in der Ausstellung präsent. Auch A.M. Jehle und Nesa Gschwend sind dabei. Aber auch jüngere Künstlerinnen wie Karin Ferrari, Anna Witt, Sevda Chkoutova, Claudia Mang, Saba Skaberne, Judith P. Fischer, Bianca Tschaikner, Ina Loitzl und Barbara Husar oder Kollektive wie Gyne Punk und Projecte Oter. Und spannende lateinamerikanische Künstlerinnen wie Gesline Anrango oder Paula Lopez Droquett. Diese Kunstpositionen sind nie illustrierend. Vielmehr vertiefen und erweitern sie das Thema, funktionieren wie Bohrkerne, verdichten, sezieren, bringen neue und ungewöhnliche Sichtweisen ein.

Darüberhinaus werden die verschiedenen Geburtsgeschichten auch in Form von Interviews zu hören sein.
Summer: Es wird neun Videos geben. Neun in Vorarlberg lebende Menschen, Frauen und Männer, erzählen ihre ganz persönlichen Geburtsgeschichten und decken alle Themen ab, die wir in der Ausstellung aufgegriffen und beleuchtet haben.
Sturn: Außerdem wird es im Herbst eine Ausstellungs­publikation geben, die die vielfältigen Zugänge, die unglaub­lich spannenden Geschichten, die Kunstwerke und Expona­te dokumentiert.
Dür: Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Ausstellung beginnt mit dem Verstehen, dann kann man sich die Praxis ansehen, um bei den Ideologien die verschiedenen Geburtskulturen zu hinterfragen und auf die Geburts- und Menschenrechte zu stoßen. Beim Hinausgehen kann man schließlich den Blick in die Zukunft werfen, um kennenzulernen, wie ein kreativer Umgang mit Geburtskultur aussehen könnte. Dafür wird es lokale und internationale Bei­spiele geben. Dazu gehört auch der Gebärraum in der gebauten Version als manifest gewordene Vision in unmittelbarer Nachbarschaft zum Frauenmuseum.

Die Jubiläumsausstellung wird von einem vielfältigen, landesweiten Rahmenprogramm begleitet, und auch das Netzwerk der verschiedenen Frauenmuseen wird sichtbar. Die Ausstellung bildet den Ausgangspunkt des Creative-Europe­Projektes „Birth Cultures".
Pitscheider Soraperra: Das europäische Projekt hat wesentlich zur Finanzierung beigetragen. Die Ausstellung wird im Anschluss in adaptierter Form zuerst im Center of Gender Culture in Charkiv in der Ukraine und dann im La Bonne Centre de Cultura de Dones Francesca Bonnemaison in Barcelona zu sehen sein. Von uns kommen das Konzept und die Texte, die Exponate bringen die einzelnen Museen in Eigenregie ein. Am Ende wird die Ausstellung dann im Frauenmuseum Meran zu sehen sein.

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