"Ich möchte hier raus!" Birgit Jürgenssens Kunst der 1970er Jahre
Birgit Jürgenssen besaß eine ausgeprägte diagnostische Intuition. So erkannte sie Stereotypen und Dispositive, welche die Gesellschaft der 1970er-Jahre für Frauen bereithielt. Rückblickend erklärt die Künstlerin: »Ich wollte die gängigen Vorurteile und Rollenbilder, die Frauen in der Gesellschaft zugewiesen werden und mit denen ich immer konfrontiert war, aufzeigen und die Missverständnisse des Alltags darstellen.«1 Das Vokabular ihrer Kritik ist mannigfaltig. Sie bringt seelische Empfindungen unmittelbar oder distanziert, aber stets detailreich aufs Blatt: makaber und verzweifelt, provokant und aggressiv, ironisch und subversiv. Mitte der 1970er Jahre schuf Birgit Jürgenssen einige provokante Hausfrauen-Zeichnungen, die heute zu den Hauptwerken der feministischen Avantgarde gehören. Bedenken wir, dass Hausarbeit im Gegensatz zu Lohnarbeit unentgeltlich ist und damit die Entwertung der Frau im Haushalt mit ihrer allgemein entwerteten Position in der Öffentlichkeit einhergeht. Peter Weibel gibt in seiner Analyse von Birgit Jürgenssens Hausfrauen-Zeichnungen zu verstehen: »Der weibliche Körper ist [...] ein Territorium der männlichen Hegemonie und damit ein Feld der Kolonialisierung. [...] Die Zeichnungen zeigen die sozial konstruierte Weiblichkeit als Leidensspur einer jahrhundertealten Diktatur.«2 Da können schon mal Lynchfantasien aufkommen, so wird in der Zeichnung Bodenschrubben das männliche Geschlecht sarkastisch als »Waschlappen« eingesetzt. Wörter oder Redewendungen in ihrer eigentlichen semantischen Bedeutung buchstäblich aufzufassen und ironisch zu visualisieren, ist ein zentraler Topos in Birgit Jürgenssens Œuvre. Wie in Lewis Carrolls Klassiker Alice im Wunderland, den die Künstlerin schätzte, verkehren sich bewusst die Größenverhältnisse: Hausfrau (z401) verwandelt sich in eine übergroße Tigerin. Das kleingeistig geschrumpfte Heim erweist sich als Gefängnis und so rüttelt sie wütend am Gitter, welches nicht zufällig die Form eines Rasters aufweist. Auf der anderen Seite der Grenze fliegen zwei Vögel, als Allegorie der Freiheit. Hausfrau als Lebensentwurf in seiner Ausschließlichkeit, d.h. die existentielle Reduktion des Menschen auf Hausarbeit, beinhaltet demnach den Verlust persönlicher Entfaltung. mehr
Im Jahre 1975, auf dem Höhepunkt der »first wave«-Frauenbewegung, schafft Birgit Jürgenssen das markante Objekt Hausfrauen-Küchenschürze (s51), das einen Herd darstellt und noch im selben Jahr in der von Valie Export kuratierten Ausstellung MAGNA - Feminismus: Kunst und Kreativität zu sehen war. Im August 1975 publizierte das italienische Magazine DOMUS (Nr. 549) in einer Besprechung dieser Ausstellung Birgit Jürgenssens Küchenschürze (ph1578) und den großformatigen Schuhsessel (s15). Gekleidet als Hausfrau, hängt sich die Künstlerin den Herd um den Hals und trägt so die Last und Bürde der vom Patriarchat gesellschaftlich zugewiesenen eindimensionalen Hausfrauenrolle. Bewusst nimmt sie sich mit dem Objekt so auf, dass sie die Fotografien zu einem Diptychon zusammensetzen kann: frontal und im Profil - wobei der hängende Herd als Metapher für Schwangerschaft und das herausragende Brot als Phallusanspielung gelesen werden können. Die Frau und der an ein Korsett erinnernde, ihrem Körper zugewachsene, funktionale Gegenstand werden schonungslos dem visuellen Zugriff ausgesetzt.
Die Fotografie Ich möchte hier raus! (ph17) gehört zu den beliebtesten Arbeiten von Birgit Jürgenssen - vielleicht weil jede(r) von uns schon dieses Verlangen verspürt hat. Nett und adrett mit weißem Spitzenkragen und Brosche gekleidet drückt sie ihr Gesicht dermaßen gegen eine Glaswand, dass ihre Wange einen Abdruck hinterlässt und ihr Atem darauf kondensiert. »Performance bedeutet für mich die Möglichkeit ein konkretes Anliegen in eine künstlerische Form zu bringen«3 , erklärt Birgit Jürgenssen. Die performative Arbeit Ich möchte hier raus! veranschaulichen die existenzielle Dringlichkeit von Grenzüberschreitung. Birgit Jürgenssen schreibt in einem Brief, den sie nicht zufällig am Internationalen Frauentag verfasst: »Die Frage nach der eigenen Identität ist heute nicht mehr Wer bin ich?, sondern vielmehr Wo bin ich? [...] Die geschlechtsspezifische Identität entsteht durch den Raum, den Menschen sich schaffen, um darin existieren zu können.« Im »Akt der Überschreitung«4 liegt also der Versuch, ungeliebte Identitäten (Hausfrau, Ehefrau, Putzfrau) abzustreifen, die Negation »falscher« Identitäten zu bejahen und sich somit einen selbst definierten Raum zu erobern.
Für Birgit Jürgenssen war »Selbstironie eine Form autobiografischer Strategie, um subversives und dekonstruktives Potenzial leichter zu vermitteln«, wie sie in einem Interview erklärt. Diese Selbstironie verhalf ihr »Abstand« und »Distanz« einzuhalten gegenüber den »starken Rollenklischees«, in denen sie aufgewachsen war.5 Selbstironie übernimmt also in ihrem Werk die Funktion eines wirksamen Gegengiftes. In vielen Arbeiten werden daher stereotype Rollenzuweisungen selbstironisch unterwandert. Den restriktiven Vorstellungen mancher Feministinnen entsprechend, wie der Habitus einer emanzipierten Frau zu sein habe, wurde Birgit Jürgenssen öfters vorgeworfen, sie kleide sich zu modisch und schminke sich sogar (sic!). In diesem Kontext kann das mit Lippenstift auf den Rücken aufgetragene Jeder hat seine eigene Ansicht (ph16) als Jürgenssens ironische Kritik am rigiden Flügel feministischer Bewegung gedeutet werden. In einer forcierteren Weise konterte Hannah Wilke mit ihrem legendären Plakat Marxism and Art. Beware of Fascist Feminism.
Die Auseinandersetzung mit Worten, Begriffen, Redewendungen und mit der Sprache im Allgemeinen gehörte für Birgit Jürgenssen zu ihrem künstlerischen Alltag. In einer Fotografie aus dem Jahre 1972 stellt die Künstlerin in verschiedenen Körperposen die vier Buchstaben des Wortes FRAU (ph1037) nach. Elisabeth Bronfen analysiert vortrefflich diese performative Arbeit wie folgt: "Die Person ist, wie Jürgenssen in "Pulsschlag einer Sinnlichkeit" feststellt, "ein Produkt der Kombinatorik, die Kombination ist relativ stabil und mehr oder weniger komplex"6. Tritt die Künstlerin als Frau nur als Kompositum verschiedener verkörperter Ausdrucksformen in Erscheinung, wird zugleich deutlich, dass Weiblichkeit ein durch das Zusammensetzen von Bildern und Buchstaben erzeugtes Konstrukt ist, dem sich der reale Körper der Frau fügen muss. Der Begriff 'Frau' gewinnt seine Bedeutung dadurch, dass er von dem Begriff 'Mann' unterschieden ist, wie das Wort 'Frau' ebenfalls dadurch seine Spezifik gewinnt, dass es sich von anderen möglichen (aber kulturell unsinnigen) Buchstabenkonstellationen - "Fray" oder "Brau" - unterscheidet. Die Verdoppelung des Buchstaben durch eine Körpergeste dient Birgit Jürgenssen somit weniger jener ornamentalen Ausschmückung, wie man sie aus der Tradition des Körperalphabets kennt, als einer Reflexion über das Verhältnis von Subjektivität und Sprache. Dem erfolgreichen Aneignen von Sprache, mit dem das erwachsene Subjekt sich des Selbstausdrucks bemächtigt, ist auch eine Geste der Unterwerfung eingeschrieben. Die Sprache hält aufrecht und fordert zugleich eine Anpassung an vorgegebene Kodes; sie schirmt ab, ist jeglichem vermeintlich natürlichen, freien Selbstausdruck überlagert. Über die Sprache tritt die Person in Erscheinung, kann sich entäußern und den Anderen mitteilen, jedoch immer nur als eine kulturell konfigurierte Gestalt, der reinen Leiblichkeit wie der reinen Affekte entfremdet."7
Im April 1974 fordert Birgit Jürgenssen den DuMont-Verlag auf, eine umfassende Anthologie über Künstlerinnen zu veröffentlichen: »So oft ist die Frau Kunstobjekt«, schreibt sie in dem Brief, »selten und ungern lässt man sie selbst zu Wort oder Bild kommen. [...] Ich möchte einmal die Möglichkeit haben, mich nicht immer nur mit Kollegen sondern auch mit Kolleginnen vergleichen zu können.« Solche Kolleginnen fand sie in den Künstlerinnen Louise Bourgeois und Meret Oppenheim. Anders als ihre österreichischen Künstlerkolleginnen hat sich Birgit Jürgenssen schon früh, Ende der 1960er und Beginn der 1970er Jahre, intensiv mit dem französischen Surrealismus beschäftigt, den sie - wie sie selbst sagte - als "inspirative Poesie"8 auffasste. Die Auseinandersetzung mit dem französischen Surrealismus war in Wien zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit, weder waren in öffentlichen Bibliotheken all zu viele Bücher über ihn zu finden, noch war er in der Wiener Kunstszene präsent, die vor allem durch die Wiener Schule des Phantastischen Realismus und in der Folge durch den Wiener Aktionismus bestimmt war. Eine der prägnantesten surrealistisch anmutenden Arbeiten von Birgit Jürgenssen ist die Inszenierung des Tier-Werdens Selbst mit Fellchen (ph679) aus dem Jahre 1974, bei der die Künstlerin ein präpariertes Fuchsfell über ihr Gesicht legt und ihre Lippen zu einer Schnauze zuspitzt. Diese Arbeit widmete die Künstlerin am 17. 3. 1981 einer ihrer "Kolleginnen" mit den Worten »Für Meret Oppenheim in Verehrung. Birgit Jürgenssen« in der Vorzugsausgabe ihres Kataloges 10 Tage - 100 Fotos von 1980.
Birgit Jürgenssens Affinität zum Surrealismus ist in ihrem gesamten Werk präsent, ebenso ihre Vorliebe zum französischen Strukturalismus, der Psychoanalyse und der Ethnologie. Ein einheitlicher und wieder erkennbarer Stil war ihr weniger wichtig als die Lust am Experimentieren, die sich in vielfältigen Arbeitsmethoden mit dem fotografischen Material widerspiegelt. Grundsätzlich ziehen sich Inszenierungen des weiblichen Körpers im Lichte von Maskerade, Verkleidung, Fragmentierung, Fetisch und Tier-Werdung motivisch durch Birgit Jürgenssens Schaffen. Dabei ist faszinierend zu beobachten, wie es ihr gelingt, ihr Werk am Schwellenraum zwischen Moderne und Postmoderne zu situieren. Eine spezifische sozialpolitische Haltung hat sich Birgit Jürgenssen auch nach den 1970er Jahren bewahrt. Denn auf die Frage, ob »sie sich als feministische Künstlerin bezeichnen würde«, antwortete Birgit Jürgenssen ein Jahr vor ihrem Tod: »Im Sinne der Bewusstwerdung, Analyse und Dekonstruktion von herrschenden Theorien und Repräsentationssystemen - ja.«9
Dieser Text ist eine veränderte Kurzfassung meines Essays: »Ich bin.« Zum Wandel künstlerischer Eigenidentität bei Birgit Jürgenssen, erschienen in: Gabriele Schor und Abigail Solomon-Godeau (Hrsg.), Birgit Jürgenssen (Ostfildern: Hatje Cantz, 2009).
1) Birgit Jürgenssen, “‘Alles fließt, bedingt und durchdringt einander.’ Ein Gespräch mit Felicitas Thun-Hohenstein,” in: Carola Dertnig, Stefanie Seibold, eds. let’s twist again. Was man nicht denken kann, das soll man tanzen. Performance in Wien von 1960 bis heute (Vienna: D. E. A., 2006), S. 272–79.
2) Peter Weibel: "Birgit Jürgenssen oder Körper-Kunst wider die Semiotik des Kapitals", in: Ausst.-Kat. Birgit Jürgenssen. Früher oder Später, (Linz: Landesgalerie Oberösterreich, 1998), S. 83-85.
3) Birgit Jürgenssen: »›Wie erfährt man sich im Anderen, das Andere in sich?‹ Ein Gespräch mit Rainer Metzger«, in: Kunstforum International, 164, März–Mai 2003, S. 234–247.
4) Brief von Birgit Jürgenssen an Doris Linda Psenicnik. Vienna, 8.3.2000 (Nachlass Birgit Jürgenssen).
5) Birgit Jürgenssen 2003 (wie Anm. 3).
6) Birgit Jürgenssen, “Pulsschlag einer Sinnlichkeit,” in: Ausst.-Kat. Schmuck. Zeichen am Körper(Linz: OÖ Landesmuseum, 1987), S. 234.
7) Elisabeth Bronfen: "Selbstironie als autobiographische Strategie: Birgit Jürgenssens Sprachspiele", in: Gabriele Schor und Abigail Solomon-Godeau (Hrsg): Birgit Jürgenssen(Ostfildern: Hatje Cantz, 2009), S. 79-95.
8) Birgit Jürgenssen im Gespräch mit Doris Linda Psenicnik. Wien, 21.12.1998 (Nachlass Birgit Jürgenssen).
9) »Fragebogen zur Ausstellung Muttertag«. Nachlass Birgit Jürgenssen. Anlässlich der Ausstellung Produkt Muttertag.