Oliver Koerner von Gustorf
Birgit Jürgenssen? Nie gehört? Eine Monografie lädt zur überfälligen Rezeption eines fesselnden Lebenswerks

Wenn Peter Weibel von der 2003 verstorbenen Wienerin spricht, spart er nicht mit Superlativen: "Birgit Jürgenssen ist das Missing Link, das endlich entdeckt wird für die Geschichte nicht nur des österreichischen Feminismus zwischen Maria Lassnig und Valie Export, sondern auch für die internationale Bewegung der Frauenkunst von Francesca Woodman bis Cindy Sherman." Oder: "Um ihren Rang zu verstehen: Birgit Jürgenssen stellt eine zeitgenössische Position dar in Fortsetzung von Meret Oppenheim und Luise Bourgois."Welch eine Prämisse für eine Wiederentdeckung: Während die Rezeption des Lebenswerk eben erst beginnt, wurde die Künstlerin bereits heiliggesprochen.

Ende 2010 findet eine große Retrospektive im Wiener Kunstforum statt, ein mehrbändiger catalogue raisonné der über 3000 Arbeiten befindet sich in Planung. Den Auftakt bildet jetzt eine von Gabriele Schor und Abigail Solomon-Godeau herausgegebene Monografie. Schor ist Kuratorin der Sammlung Verbund, die sich bereits um das Frühwerk Cindy Shermans und die weibliche Avantgarde verdient gemacht hat. Doch besitzt Jürgenssen das Potential von Bourgeois und Kolleginnen? Ja - wenn diese Vergleiche nicht die Sicht auf ihr durchaus ambivalentes Oeuvre verstellen würden. mehr

1975, auf dem ersten Höhepunkt der Frauenbewegung, entwirft sie eine dreidimensionale Hybride aus Schürze und Backofen (s51). Diese buchstäbliche Fesselung an die Küche ist so ironisch wie "Semiotics of the Kitchen", Martha Roslers berühmte Videoperformance aus demselben Jahr, und nimmt Rosemarie Trockels "Herd-bilder" zehn Jahre vorweg. Der reich bebilderte Band zeigt, wie experimentell Jürgenssen divergente Modelle weiblicher Identität konstruiert. 
Es scheint, als seien Worte für sie performative Akte, die nicht nur die Macht besitzen, etwas zu beschreiben, sondern das, was sie bezeichnen, auch vollziehen. So erscheint sie in ihrer Zeichnung "Stiefelknecht" (z417) als sadomasochistisches Möbelstück, verwandelt sich auf der Fotoarbeit "Ich möchte hier raus!" (ph17) in eine hinter Glas gehaltene Nachkriegsmutti oder transformiert sich in "Selbst mit Fellchen" (ph679) zur surrealen Catwoman.
Fast immer wird ein abgründiger Humor spürbar, gelegentlich auch etwas zu viel Gender-Didaktik. Birgit Jürgenssen ist aber gerade am besten, wenn die Witze nicht mehr aufgehen, wenn sich kein platter Aha-Effekt einstellt. In Momenten, in denen sie auf der Schnittstelle zwischen Sprache und Körper balanciert wie auf einer Klinge, erweist sie sich als so eigenwillig wie kaum eine andere Künstlerin ihrer Generation.

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