Paula Watzl
Wittgensteins Grammatik der Fotografie

Ein persönliches Fotoalbum aus dem Nachlass Ludwig Wittgensteins zusammengedacht mit den Big Names der zeitgenössischen Fotografie –  eine variantenreiche Ausstellung überzeugt mit zahlreichen sehenswerten Werken und einer Prise Philosophie.

Was hervorragende kuratorische Arbeit leisten kann, stellen aktuell Verena Gamper und Gregor Schmoll im Leopold Museum unter Beweis. Mit völlig neuen Blickwinkeln tragen sie das Vermächtnis Ludwig Wittgensteins und eine umfassende Fotografie-Ausstellung zusammen und stellen plötzlich augenscheinliche Bezüge her, wo für den Laien keine logische Verwandtschaft ersichtlich war. „Ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand“, meinte schon Wittgenstein und scheint damit den Takt vorgegeben zu haben. Das Konzept stellt den Philosophen in den Mittelpunkt. In Vitrinen fühlt man Wittgensteins persönlichen Notizen und den raren selbstgeschossenen Fotos nach. Rundum, an den Wänden, werden Beziehungen veranschaulicht, Ideen thematisch herauskristallisiert und in einen Kontext gestellt. Wie etwa im Themenfeld Porträts und Selbstbildnisse, wo zu den spärlichen Aufnahmen des Philosophen Bildanalysen von Thomas Ruff, Birgit Jürgensen, Friedl Kubelka und zahlreichen weiteren Positionen in Dialog gesetzt werden. mehr

Immer wieder tauchen Überlegungen dazu auf, wie die Fotografie die Wirklichkeit verfälscht, vereinfacht und auf Ähnlichkeiten reduziert. So sind sogenannte „Composite Portraits“ – überlagerte Fotoaufnahmen, die mit der Technik der Zusammenschau nach einer potenziellen Verallgemeinerung eines Typus Mensch suchen – ebenso zur Diskussion gestellt wie die Automatenporträts von Peter Handke oder jene Porträtserie von Gillian Wearing, in der sich die Künstlerin im Stil all ihrer Familienmitglieder ablichtet. "Ein Mensch/ Einer/ dem man eine Photographie des A zeige und den man fragt findest Du nicht, daß ihm die Photographie sehr ähnlich sieht könnte sagen. Keine Spur, sie ist gar nicht ähnlich: das Papier ist viereckig und ganz dünn und er nicht [...]", wird Wittgenstein dazu passend im umfassenden Aus­stellungskatalog zitiert.

Es ist keine biografische Ausstellung und doch kommt man Ludwig Wittgenstein unglaublich nah. Schaut ihm über die Schulter, wenn er Postkarten verfasst, und blickt entlang der Fingerspitzen, mit denen er sein kleines Fotoalbum beklebte. Das klei­ne, linierte Notizbuch, dessen 152 Seiten Wittgen­stein für 102 persönliche Foros verwendete, steht im Zentrum der Schau und wird passend nicht nur von Gerhard Richters Atlas flankiert, sondern auch von Arbeiten von Heimo Zobernig, Peter Hujar und Nan Goldin, um nur wenige der renommier­ten Künstler in der Ausstellung zu nennen. "Es sind Werke von zeitgenössischen Künstlern, die sich nie dezidiert auf Wittgenstein beziehen. Unser Fokus war nicht, Wittgenstein zu bebildern, sondern das Fotografische selbst ins Zentrum zu stellen und Re­sonanzräume zu etablieren", erklärt Verena Gamper.
Bewusst entschied man sich gegen die Präsen­tation von Zeitgenossen Wittgensteins, denn man wollte den Philosophen nicht in die Kunst­geschichte einschreiben, sondern vielmehr seinen Blick auf die Fotografie in den Mittelpunkt stellen. Dies geschieht in mehreren Kapiteln, wobei auch der Humor nicht zu kurz kommt: So wird nicht nur die fotografische Sammlung von Ludwig Wittgen­stein gezeigt, sondern auch Teile seiner sogenann­ten "Nonsense Collection" werden präsentiert, skurrile Zeitungsartikel, die die Brüder Wittgen­stein sich zusandten und die nun ironisch und amüsant unter anderem mit Mike Kelleys „Ecto­plasm Photographs" oder Sigmar Polkes Serie „Hö­here Wesen befehlen" zusammengeführt werden. Im 70. Todesjahr Wittgensteins, 100 Jahre nach dem Erscheinen seines "Tractatus", lernt man im Leopold Museum nun unaufdringlich vom Philo­sophen, seinem Leben und seiner Haltung. Auf er­frischend intime Art – für Wittgenstein-Kenner ein Vergnügen, für solche, die ihn erst kennenler­nen, eine kurzweilige Annährung, die alle Trocken­heit, die eine philosophietheoretische Darstellung mit sich bringen könnte, elegant umgeht. Eine inti­me Ausstellung, für die man sich Zeit nehmen soll­te, und dabei nicht nur mit neuen Einsichten zu Wittgenstein, sondern auch mit einer erstlassigen fotografischen Gruppenschau belohnt wird.

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