Peter Weibel
Sprache als Skulptur / Körper als Text
In: Birgit Jürgenssen, Lawrence Weiner (Hrsg.): Kat. I Met a Stranger. (Wien, Bozen: Folio, 1996).

 

Ein Künstlerbuch als Schnittstelle.  Lawrence Weiner dehnt das immaterielle Reich der Zeichen in das materielle Reich der Dinge aus, indem er Worte auf Wände malt. Er dehnt das Medium der Schrift von der zweidimensionalen Fläche des Papiers auf dreidimensionale Körper bzw. Gegenstände des Raumes aus. Er arbeitet mit Schrift, die, wie Freud gesagt hat, die Sprache der Absenz ist. Die abwesenden Dinge und Wesen, Ereignisse und Personen werden durch die Schrift zumindest symbolisch anwesend- Man könnte sagen, es handelt sich bei den Arbeiten von Lawrence Weiner um eine Übersetzung aus einer Sprache in eine andere, aus der Ordnung der Dinge in die Ordnung der Worte. Weiner ist daher nicht auf den Status eines Dichters zu reduzieren, sondern ist ein visueller Künstler, der mit den Mitteln der Schrift die Arbeit des Malers und Bildhauers in neue Territorien ausdehnt, weiterführt und in neue Codes übersetzt. Weiner arbeitet nicht mit Objekten des Raumes, sondern mit Signifikanten des Raumes. Sein berühmter Satz, “viele farbige Dinge nebeneinander angeordnet bilden eine Reihe vieler farbiger Dinge”, die während der Documenta 7 in Kassel (1983) auf dem Dachgesims des Fridericianums zu lesen war, ist ein sprachliches Statement über skulpturale Phänomene und erweist Weiner daher als Bildhauer, gerade indem er mit seiner An/Ordnung von Druckbuchstaben auf die An/Ordnung von Dingen verweist. Weiner arbeitet mit Signifikanten von Skulptur. Gerade dadurch wird es ihm möglich, aus der geschlossenen Räumlichkeit der Objekte auszubrechen und das offene Feld der Beziehungen zwischen Objekten zu erforschen. Seine frühen Sätze insbesondere unterstützen wegen ihres Charakters von Handlungsanweisungen für Objekte im Raum die hier vorgetragene Auffassung, daß Weiner ein Bildhauer ist, der mit SIgnifikanten der Skulptur und des Raumes arbeitet: “eine Wand durch einen einzigen Schrotflintenschuß mit Kratern übersät”, “versetzt” (displaced), “eine Tasse Meerwasser auf den Boden gegossen”, “ein 36 x 36 Inches großer Ausschnitt bis auf den Grund des Latten- oder Mauerwerks aus einer Gipswand oder Wandplatte”, “hinauf auf (in) die Luft hinunter auf (in) die Erde”, “hinsichtlich Inschriften (einer Art): daraufgeschrieben ziemlich tief eingekerbt”. mehr

Birgit Jürgenssen dehnt das materielle Reich der Dinge in das immaterielle Reich der Zeichen aus, indem sie Körperfragmente fotografiert. Sie überträgt den Körper aus der dreidimensionalen Welt des Raumes in die zweidimensionale Fläche der Fotografie. Sie arbeitet mit Schrift, die, wie Freud gesagt hat, die Sprache der Absenz ist. Die Technik setzt diese Arbeit der Schrift als Sprache der Absenz fort. Abwesende Körper und Wesen, Ereignisse und Personen werden durch die Fotografie zumindest symbolisch anwesend. Man könnte sagen, es handelt sich bei den Arbeiten von Birgit Jürgenssen um eine Übersetzung aus einer Sprache in eine andere, aus der Ordnung der Dinge in die Ordnung der Zeichen, aus der Sprache der Schrift in die Sprache der Fotografie. Jürgenssen ist daher nicht auf den Status einer visuellen Künstlerin zu reduzieren, sondern sie ist eine Poetin, die mit den Mitteln des Körpers und der Fotografie die Arbeit der Malerei und Skulptur in neue Territorien ausdehnt, weiterführt und in neue Codes übersetzt. Jürgenssen arbeitet nicht mit Objekten des Raumes und auch nicht mit dem Körper als Objekt, sondern mit Signifikanten des Körpers und des Raumes. Ihr berühmter Satz, “Jeder hat seine eigene Ansicht” (ph16), der mit Lehm auf ihren nackten Rücken geschrieben steht (1979), ist ein fotografiertes Statement auch über skulpturale Phänomene und erweist Jürgenssen als Bildhauerin, gerade indem sie mit ihrer An/Ordnung von Druckbuchstaben auf die An/Ordnung von Dingen verweist. Sie weist aber auch insbesondere darauf hin, daß diese An/Ordnung von der Position des Subjekts abhängig ist und daß der materielle Ort dieses Subjekts sein Körper ist. Nachdem der Satz auf den Rücken des Subjekts geschrieben ist, ist klar, daß dem Subjekt selbst diese seine Ansicht, also seine eigene Ansicht, nicht zugänglich ist. Der Satz ist also eingeschränkt, nur relativ wahr, denn jedem ist gerade seine eigene Ansicht verwehrt. Mit dem Satz kann nur aus dem geschlossenen Interpretationsraum ausgebrochen werden, wenn unter Ansicht auch die Nichtsicht verstanden wird, wenn gleichsam unter jeder auch nicht jeder, also der andere, verstanden wird, die eigene Ansicht auch die fremde Ansicht nicht ausschließt. So entsteht ein offenes Feld von Bedeutungen. Die Position des Blicks fragmentarisiert die Wahrnehmung. Die Kamera verschärft durch ihren Bildausschnitt die Fragmentarisierung der Gegenstandswelt und damit auch des Körpers. Der Körper wird zum Schauplatz von “Inschriften (einer Art): daraufgeschrieben ziemlich tief eingekerbt”.

Der Körper wird in der Fotografie zum Papier und die Schrift auf dem Körper zu einer Schrift auf dem Papier. Das Medium Papier bildet also die Schnittstelle zwischen der Arbeit mit dem Körper und der Arbeit mit der Sprache. Im Medium Papier treffen sich also die Arbeitsmethoden von Birgit Jürgenssen und Lawrence Weiner. Jürgenssen arbeitet mit fotografischen Signifikanten des Körpers, Weiner mit schriftlichen Signifikanten des Raumes. Beide reduzieren eine körperliche Dreidimensionalität auf eine zeichenhafte Zweidimensionalität. Die Materialisation der Schrift auf dem Papier läßt diese an Körperlichkeit gewinnen. Die Materialisation des Körpers auf dem Papier läßt diese hingegen an Körperlichkeit verlieren. Der “loss stop” korreliert mit einem “Gewinn Stop”. Hinter dieser ökonomischen Terminologie verbirgt sich auch eine Ökonomie des Begehrens, die auf einem Austausch der Signifikanten beruht: Der Körper spricht und die Sprache verkörpert. Der Körper wird zum Text und der Text zum Körper. Der Körper wird durch seine fragmentarisierte Abbildung und seine Beschriftung gleichzeitig entdeckt und verhüllt, er bietet eine eigentümlich fremde Ansicht. Er ist anwesend und abwesend, er ist nur eine geheimnisvolle Spur, deren Ursprung mehr geahnt als gewußt wird. Er wird zum corpus delicti, gerade durch seine Fernanwesenheit und Fremdanmutung. Das Auge sieht ihn, aber gleichzeitig auch nicht. Das Geheimnis, in das der Körper durch die Fotografie bei Jürgenssen gehüllt wird, kontrastiert mit der analytischen Klarheit der Sprache von Lawrence Weiner.

Surrealismus und Konzeptkunst begegnen einander auf nur scheinbar paradoxe Weise. So überraschend  diese Begegnung auf den ersten Blick auch aussehen mag, gibt es doch zwischen beiden künstlerischen Positionen eine Art geheimes Netz von Verbindungen. “Riten des Übergangs” hat Weiner 1993 eine Arbeit in München genannt, in der abgerundete Fels-Höcker und Buckel in abstrahierter Form an die Wand gemalt worden waren. Um solche Riten des Übergangs handelt es sich auch bei vielen Arbeiten von Jürgenssen. Eine Hand geht über in einen Stöckel-Absatz (ph1656), sodaß die Hand zum Fuß wird. Über einen Arm ist ein farbiges Blatt gefaltet, wodurch der Arm zum Ast oder zu einem Reptil wird. Eine Zeichnung erscheint als Tätowierung (z78). Lichtpunkte bilden ein Netz über einer Hand, die dadurch einen kopfartigen Charakter erhält. Die Sprachskulpturen von Weiner sind nicht immer nur transparent, sie zielen auch auf ein Geheimnis: “It is a secret”. “To try and decipher it may not be the point”, schrieb er 1989 zu seiner Arbeit “Nau Em I Art Bilong Yumi”. Das für Weiner typische Verfahren des Ausschneidens bzw. Perforierens von Seiten, wodurch fragmentarisierende Durchblicke auf die Körperfotos von Jürgenssen ermöglicht werden, steigert deren Reiz des Geheimnisvollen. Die Körperbilder von Jürgenssen stehen wegen ihres geheimnisvollen Charakters in der surrealistischen Tradition, wo Blick und Aufmerksamkeit, die Fragmentarisierung der Wahrnehmung und des Körpers eine zentrale Rolle spielen. Der surrealistische Körper lebt zwischen Traum und Wirklichkeit, ist Spiegelbild des Imaginären. Der Körper erscheint dort fast stets in metonymischer Form. Man sieht leere Schuhe vor einer Treppe, einen Arm, der aus einer Tür ragt, ein isoliertes Auge, eine Hand, die mit einem Stab auf dem Boden herumgeschoben wird. Man sieht aber auch Metamorphosen und anagrammatische Körper, das sind Körper, dessen Organe strukturiert werden wie Wortspiele. Die Arbeit “Sicherheitsschloß mit Löffel” (1957) von Marcel Duchamp bildet einen besonderen Schlüssel zur gemeinsamen Arbeit von Jürgenssen und Weiner. Denn Jürgenssen operiert mit Strategien des Verhüllens und Verdeckens, des Exponierens und Versteckens. Sie gibt gleichsam den Schlüssel, aber die Tür ist versperrt und der Löffel ist kein adäquater Schlüssel für das Schloß. Solche Strategien des Widerspruchs, der Antonomien und Situationen des Double bind findet man auch, auf versteckte Weise, bei Weiner, z.B. in Sätzen wie “Fundament oder Treibsand”, “Ein Stück Stahl hält eine Menge Glas über dem Boden”, “Mein Haus ist dein Haus dein Haus ist mein Haus” und vor allem in dem Satz “altered to suit” (verändert, um zu passen). Auch eine andere Arbeit von Duchamp, die berühmte Tür in der Ecke eines Zimmers, sodaß das Schließen der einen Türöffnung das Öffnen der anderen Tür bedeutete und umgekehrt (1927), ist von der Struktur des Double bind gezeichnet und daher ein zentrales Modell für die gemeinsame Arbeit von Jürgenssen und Weiner. Die Bestimmung des technischen Sehens durch den Surrealisten Jacques Brunius 1938: “Zeige, was das Auge nicht sieht; zeige, was das Auge sieht, aber anders ”, gilt für beide. Der surrealistische  Körper ist das Corpus delicti, ist der fragmentarisierte und zerstückelte Körper, die “Sculpture involuntaire”, wie eine Serie von Aufnahmen von Brassai 1933 hieß. Die Form des surrealistischen Körpers ist die “informe”, welchen Ausdruck Georges Bataille, der surrealistische Renegat, 1929 erfand. Der fotografische Körper des Surrealismus erscheint als Phantasma der Begierde, aber auch als unheimliche Wunde, als konvulsivische Schönheit, als Bedrohung. Die surrealistische Fotografie des Körpers ist das erste Beispiel dessen, was Rosalind Krauss mit “the photographic condition” als Beginn der Postmoderne beschreibt. In dieser Postmoderne ist die “linguistische Wende” vollzogen. In Fortführung der “Ecriture-Automatique” von André Breton, der 1920 deklarierte, “das automatische Schreiben, das am Ende des 19. Jahrhunderts auftauchte, ist eine wahre Fotografie der Gedanken”, wird jedes Werk aus dem Feld der physikalischen Präsenz in die höhere Sphäre der artikulierten Sprache von ästhetischen Codes gehoben. Jene Klasse von Zeichen, die aber ihren Bezug zum realen Ursprung nicht leugnen und daher eine physikalische Beziehung noch offerieren, und die daher Index genannt werden, spielen dabei eine zentrale Rolle. Die gegenständlichen Applikationen auf dem Körper wie die Buchstaben und Zeichen auf dem Körper bei Jürgenssen stellen solche indexikalische Operationen dar. Ebenso wie auch die Textapplikationen an Wänden bei Weiner indexikalische Operationen sind, wie schon die geläufige Benennung seiner Arbeiten als “Sprachskulpturen” nahelegt: “Von Punkt zu Punkt ohne die Eigenschaften verbunden mit Stahl Eisen + Stein”. Die Arbeiten von Jürgenssen und Weiner treffen sich auf der semiotischen Achse des Index. Deshalb können sich Körperfragmente in Zeichen und diese Zeichen sich wiederum in andere Zeichen verwandeln, wie bei Jürgenssen. Deshalb können Gegenstände und Zeichen und die Beziehungen zwischen den Zeichen und den Gegenständen wiederum in Beziehungen von Zeichen auf Gegenständen (Wand, Boden, Sims, etc.) verwandelt werden wie bei Weiner. Kontexte werden zu Texten und Texte zu Kontexten.

Beider gemeinsames Medium ist das Buch. Jürgenssen und Weiner haben ein exemplarisches Künstlerbuch geschaffen, das mit Sprache und deren technischer Fortsetzung, das fotografische Bild, einen Projektionsschirm von vielfältigen Bedeutungen aufspannt. Im Zentrum dieses Schirms steht die Aussage “I met a stranger”. Damit ist aber nicht nur jene Fremdheit gemeint, die auftritt, wenn zwei verschiedene Geschlechter aufeinandertreffen, sondern der Fremde ist das Ich selbst. Das ist die geheime Botschaft dieses Buches, die durch Überbelichtung fast gelöscht ist.

 

Back to top